nd-aktuell.de / 12.09.2020 / Kultur / Seite 10

Halali

Heiko Werning

Es klingelt. Der DHL-Bote. Aber als ich den Türöffner drücke, ruft er durch die Gegensprechanlage: »Ich komm nicht rein!« »Wie bitte?«, frage ich verwundert. »Ich habe Pakete für die Nachbarn, kannst du rauskommen und die entgegennehmen?« »Was?« »Na, wegen der Ratte!«

Ach herrjeh. Der DHL-Bote hat eine Rattenphobie. Und wir haben Ratten im Haus. Als beide Parteien neulich im Hof aufeinandertrafen, gab es ein großes Gequietsche. Vom DHL-Boten - die Ratte blieb ganz cool und schaute nur kurz verwundert auf. Ich bin ein bisschen stolz auf sie, unsere Ratten sind nämlich auf der Evolutionsleiter schon eine Stufe weiter. Sie rennen nicht mehr sinnlos weg, nur weil ein Mensch daherkommt. Sie gucken höchstens, um zu sehen, was passiert. Aber natürlich passiert nichts, weil niemand Lust hat, sich mit ihnen anzulegen, und dann tun die Ratten weiter, was sie halt tun. Es sind eben Weddinger Ratten.

Leider ist der DHL-Mann nicht von hier. Er macht ein großes Bohei um die Ratte. »Was sollen wir denn machen«, frage ich ihn, »sie erschießen?«

Da fällt mir ein, dass einer der Hausbewohner tatsächlich seinen Jagdschein gemacht hat. Erst dachte ich, es sei ein bizarrer Irrtum, als ich aus seinem Briefkasten die »Wild & Hund« herausragen sah. Das Fachmagazin für den deutschen Jäger, kenne ich noch aus meiner Kindheit in Westfalen, aber hier im Wedding kommt es mir vor wie eine Botschaft aus einer anderen Welt. Dann lief der Nachbar mit grünen Jägersachen durch den Hof, und schließlich fing er an, Jagdhorn zu lernen. Das ergibt eine interessante Geräuschkulisse im Hof: die üblichen Turko-Pop-Klänge, gemischt mit Roland Kaiser, dem Geballer aus Fortnite Battle Royal, ergriffenen »Jesus liebt uns«-Gesängen aus dem Christencafé im Vorderhaus, und dann erhebt sich ein Horn darüber und es erklingt die »Teckelfanfare«.

Eine Woche nach dem Zwischenfall mit dem DHL-Boten reißt mich ein lauter Knall aus meinen Gedanken. Verblüfft schaue ich nach draußen. Irgendwas liegt vor den Mülltonnen. Ich gehe raus - eine tote Ratte. Erstaunt blicke ich mich um. »Die Hausverwaltung tut ja nichts!«, höre ich eine laute Stimme aus dem dritten Stock. Da steht der Jäger-Nachbar mit einer Knarre in der Hand. Ein Luftgewehr, hoffe ich jetzt einfach mal.

Ein paar Tage später klingelt wieder der DHL-Mann. »Kommst du raus?«, fragt er durch die Gegensprechanlage. »Nein«, sage ich, »die Ratte ist tot.« »Sicher?« »Sicher. Der Nachbar hat sie erschossen.« Es bleibt eine Weile still. »Hallo? Kommen Sie jetzt rein?« »Bist du wahnsinnig?«, dröhnt es zurück. »Ich gehe doch nicht in einen Innenhof, in dem scharf geschossen wird! Gott sei Dank ist für mich hier bald Schluss im Wedding. Überall Ratten und Verrückte. Ab nächster Woche liefere ich in Wannsee aus.« Schade eigentlich, ich mochte ihn. Wie es ihm in Wannsee wohl gefällt, wenn ihm die erste Wildschweinrotte begegnet?