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Immer die gleiche Geschichte

Queer gestreamt

  • Marie Hecht
  • Lesedauer: 4 Min.

Sommer, 2019. Der Bildschirm im Haus meiner Mutter leuchtet fröhlich, denn ich bin süchtig. Süchtig nach meinem Selbst. Zu Besuch im Ruhrgebiet habe ich Zugang zu einem Smart-TV und sämtlichen Streamingplattformen. Eine davon habe ich heute aktiviert. Ein Vormittag im Serienmodus. Ein Vormittag voller Tränen - Tränen des Erstaunens, der Rührung und des Glücks.

Seit meiner Kindheit liebe ich es, in Geschichten einzutauchen. Ich hörte ein Hörspiel nach dem nächsten, las ein Buch nach dem anderen, und dann wurde ich zum Serienjunkie. »Scrubs«, »Friends«, »Sex and the City«, »Gilmore Girls« … Eine nach der anderen zog ich mir rein, doch keine berührte mich wirklich und verschob meine Erlebniswelt so sehr, wie diese eine Serie, die an diesem Sommertag den Bildschirm zum Flimmern bringt: »Tales of the City« (» Stadtgeschichten«) ist der Nachfolger der Originalserie aus den Neunzigern und eine Adaption der gleichnamigen Buchreihe des Schriftstellers Armistead Maupin. Sie verhandelt den queeren Kosmos rund um die Barbary Lane 28 in San Francisco. Shawna Hawkins (Ellen Page) lebt dort in einer LGBTIQ*-Wohngemeinschaft, arbeitet in einer queeren Bar und datet mal Menschen, die sich als Frauen verstehen, mal jene, die sich als Männer ansehen, mal beide zusammen oder nebeneinander her und mal Menschen, die sich weder als männlich, noch als weiblich identifizieren.

Queer gestreamt

LGBTIQ* - mit sechs magischen Buchstaben streamt Marie Hecht sich durch den Kosmos queerer Filme und Serien.

dasnd.de/queergestreamt

Mich überfällt ein tiefes Gefühl der Verbundenheit mit dieser Frau auf dem Bildschirm. Ein Gefühl, das ich so noch nie empfunden habe. Bei keiner der vielen Serien, denen ich so viele Stunden meines Lebens gewidmet hatte. Shawna Hawkins - das bin ich! Nein, Shawna Hawkins ist noch viel mehr: Sie ist, wer ich sein will! So frei, so aufgeschlossen und so verbunden mit einer queeren Welt, nach der ich in meiner Lebensrealität noch suche. »Tales of the City« zeigt mit den vielen LGBTIQ*-Identitäten Charaktere, die sonst im Mainstream-TV vernachlässigt werden. Persönlichkeiten, die nicht als Norm gelten und daher kaum erstrebenswert sind. Oder als falsch gesehen werden. Oder unwichtig.

Sommer, 2020. Ich sitze an meinem Schreibtisch. An der Wand neben mir hängt ein feministischer Kalender. Das Zitat der Woche stammt von der Autorin Tomi Adeyemi: »Uns wurde so lange immer die gleiche Geschichte erzählt.« Eine weiße, heteronormative Geschichte. Mit Hetero-Liebe, Hetero-Konflikten, Hetero-Sex. Eine Perspektive, die viele andere Realitäten in die Unsichtbarkeit drängt.

Machtstrukturen, die unsere Gesellschaft durchziehen, Rassismus, Sexismus, Klassismus, Heteronormativität - sie werden auf dem Bildschirm immer wieder reproduziert, immer weitererzählt. Wie dröge das ist, wird erst deutlich, sobald die Erlebnisse erzählt werden, die sich außerhalb dieser Norm bewegen. Diesen Moment teile ich mit Shawna Hawkins, und er ist befreiend! Als ich zum ersten Mal mit ihr vor dem digitalen Spiegel stehe, kann ich genau fühlen, was Stuart Hall damit meinte, als er sagte: »Was wir über die Welt wissen, ist wie sie repräsentiert wird.« Erst in dem Moment, in dem sich die Lücke zwischen meiner Lebenswirklichkeit und der Geschichte auf dem Bildschirm schließt, löst sich meine innere Verwirrung, die Frage danach, ob ich nicht doch falsch bin - dieser kleine ziepende Knoten aus Zweifeln -, ganz plötzlich in Luft auf. Ich bin da. Ich fühle mich gesehen. Ich fühle mich wert, gezeigt zu werden. »Wenn Shawna das kann, kann ich das auch!« Empowerment.

Langsam wird das Bewusstsein für das Erzählen von diversen Lebensrealitäten größer. Die Auswahl der Medienangebote wächst stetig und damit auch die Konkurrenz. Moderne Streaminganbietende entdecken das Marktpotenzial diverser Zielgruppen für sich. Es gibt immer mehr queere Serien und Filme in den Mainstreamdiensten. Auch hinter den Kulissen verändert sich etwas: Autor*innen und Filmcrews werden diverser. Dem wohnt ein transformativer Moment inne. Ich sehe, was ich bin. Ich bin, was ich sehe. Bei aller Kritik an der Streamingkultur - ab jetzt zählen für mich nur noch die sechs magischen Buchstaben, die ich in das Suchfeld eingebe, um mich durch das bunte Universum der queeren Serien und Filme zu streamen und damit ein Stück durch mich selbst. Fortsetzung folgt ...

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