In den vergangenen Jahren hat El Alto einen Sprung nach vorn gemacht und ökonomisch an Bedeutung gewonnen. Hat es auch sein Stigma der armen, kriminellen Oberstadt verloren?
El Alto galt lange als abgehängt, als Schlafstadt für Menschen, die in La Paz nicht mehr unterkamen. Es stand für Armut, Kriminalität und Gewalt. An diesem diskriminierenden Bild einer gefährlichen, indigen geprägten Stadt - quasi der Hinterhof des Regierungssitzes La Paz - haben die Medien mitgestrickt. Das hat sich zwischenzeitlich etwas geändert. Ein Grund dafür ist eine neue Generation junger Menschen, die sich kulturell und gesellschaftlich artikulieren - und neue Freiräume schaffen und nutzen.
Dabei half wesentlich, dass mit dem Amtsantritt von Evo Morales Ende 2006 die Gaspreise mit den internationalen Abnehmern neu verhandelt wurden und Bolivien stärker von seinem wichtigsten Rohstoff profitierte. So floss mehr Geld in Sozial- und Infrastruktur, was auch El Alto nützte, wo viele Evo Morales gewählt hatten.
Zeitgleich haben dort auch viele Handelsunternehmen ökonomisch profitiert. Es gab einen Aufschwung, der jedoch nicht alle erreicht hat. Nach wie vor gibt es Viertel, in denen extreme Armut herrscht, öffentliche Infrastruktur noch fehlt und es beispielsweise kein Trinkwasser und keine Kanalisation gibt.
Welche Bedeutung hatte dabei der Gaskrieg von 2003, also die Proteste gegen den Ausverkauf der Ressource, in deren Folge Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada gestürzt ist?
Der Gaskrieg im Oktober 2003 war ein Wendepunkt. Alteños, so nennen sich die Bewohner der lange stigmatisierten Oberstadt, gingen gegen die Privatisierung der bolivianischen Gasvorkommen auf die Straße. Die Auswirkungen haben sich enorm auf das Selbstverständnis der Aymara in El Alto ausgewirkt. Sie haben begriffen, dass sie sich politisch artikulieren, Einfluss nehmen und ihre eigene Identität und Interessen verteidigen können.
In den folgenden Jahren hat auch eine neue Jugendbewegung über die Stadtgrenzen hinaus Aufmerksamkeit erlangt. Mit ihr entstand eine Hip-Hop-Kultur, die eigene inhaltliche Themen aufgreift. Inzwischen kommen mehr und mehr Besucher in die Stadt. Zugleich ist El Alto heute ökonomisch stärker, und auch La Paz hat - anders als früher - von dem Boom profitiert.Welche Bedeutung haben Architekten wie Freddy Mamani und Maler wie Roberto Mamani für das neue Image und für das Selbstwertgefühl der Bevölkerung?
Vor allem Freddy Mamani und die Gruppe von Architekten, die ihm nacheifern, stehen für ein neues indigenes Selbstbewusstsein. Ihre Architektur wird auch in den Nachbarländern und mittlerweile sogar in den USA und Europa wahrgenommen. Die ersten Touren für Touristen auf den Spuren dieser neuen Architektur werden angeboten. Wichtig dabei ist der Rückgriff auf die Aymarakultur mit ihren Symbolen und Mustern, den vollen, leuchtenden Farben, die auch im Norden Chiles oder im Süden Perus gut ankommen werden.
Anders liegt der Fall bei Roberto Mamani, der zwar eine andine Ikonografie populär gemacht hat, aber viel stärker in der Mittelschicht verankert ist. Seine Malereien finden sich in den Cholets nur punktuell wieder, prangen aber auf den sieben Hochhäusern mit Sozialwohnungen, die die Regierung in El Alto gebaut hat. Die Wandmalereien von Roberto Mamani werden oft als etwas Interessantes, aber nicht als etwas Eigenes wahrgenommen. Insofern hat Roberto Mamani schlicht nicht die gleiche Bedeutung wie Freddy Mamani.Warum sind die Cholets so populär?
In El Alto ist vieles immer ohne staatliche Regulation entstanden. Die Häuser wurden gebaut und anschließend legalisiert, nicht andersherum. Die Menschen haben sich ihr neues Leben in der Stadt aufgebaut, meist in Abwesenheit des Staates. Zweimal wäre die Stadtverwaltung von El Alto beinahe abgefackelt worden, weil sie sich in die Angelegenheiten der Stadtviertel und ihrer Bewohner einmischen wollte. Das stellte die gewachsenen Strukturen auf den Kopf, und dagegen gingen die Menschen vor.
Das hat sich erst mit Evo Morales geändert, denn den haben viele gewählt, ihn akzeptiert und damit auch die staatliche Regulierung. Heute sind die Alteños stolz auf ihre Stadt. Sie träumen nicht mehr davon zurückzugehen oder »nach unten« zu ziehen, wo die Bessersituierten wohnen.
Früher gab es immer das Ziel, möglichst im privilegierten Süden der Stadt zu wohnen. Heute jedoch finden Partys in El Alto statt, wo Menschen aus dem Süden auftauchen, beispielsweise zu spektakulären Einweihungspartys von Cholets.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1141977.el-alto-keiner-will-mehr-nach-unten-ziehen.html