nd-aktuell.de / 19.09.2020 / Politik / Seite 5

Alles unter Kontrolle

Auffallend oft haben Gerichte in der letzten Zeit einzelne Corona-Erlasse kassiert.

Stefan Otto

Erstmals galt am vergangenen Wochenende in München ein nächtliches Alkoholverbot an Party-Hotspots. Zwischen 23 und 6 Uhr dürfen etwa an den Isarauen oder am Gärtnerplatz Feiernde keinen Alkohol mehr im Freien trinken. Wer sich nicht daran hält, dem drohen hohe Bußgelder - mindestens 150 Euro fallen an. Wer rund um die Partyzonen Alkohol verkauft und erwischt wird, dem drohen 500 Euro Strafe. Die Regelung ist knallhart und beruht auf einer Verfügung der Stadt, die damit auf die steigende Zahl an Corona-Infektionen reagiert.

Eigentlich sollte die Regelung noch strenger ausfallen. Das nächtliche Alkoholverbot sollte anfangs in der ganzen Stadt gelten. Doch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hob die Anweisung auf. Zwar könne ein Alkoholverbot im öffentlichen Raum durch das Infektionsschutzgesetz gedeckt sein, hieß es in der Urteilserklärung Anfang September, und tatsächlich könne die Maßnahme dazu führen, eine weitere Verbreitung des Coronavirus zu verhindern. Trotzdem sei ein Alkoholverbot für das gesamte Stadtgebiet zu pauschal und daher unverhältnismäßig. Deshalb kassierte das Gericht die Allgemeinverfügung.

Am gleichen Tag hob das Gericht eine weitere Maßnahme der bayerischen Staatsregierung auf, die das Grillen auf öffentlichen Plätzen untersagte. Auch hier sahen die Richter das Verbot als unverhältnismäßig an. Es sind zwei Urteile von vielen - die Corona-Pandemie beschäftigt die Justiz. So kippte in Nordrhein-Westfalen das Oberverwaltungsgericht Münster das Verbot der Prostitution. Auch diese Verfügung verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Schließlich sei »nicht ersichtlich, dass das mit dem Ausstoß von Aerosolen verbundene Risiko der Ansteckung bei sexuellen Handlungen zweier Personen deutlich größer sei als bei privaten Feiern mit bis zu 150 Personen«, so die Richter.

Umgekehrt gehen die Vorsichtsmaßnahmen manchen nicht weit genug. Das Verwaltungsgericht Schleswig etwa lehnte im August acht Eilanträge von Lehrern ab, die mit Blick auf die Pandemie vom Präsenzunterricht befreit werden wollten. Die Richter hielten die Arbeit in der Schule mit entsprechenden Schutzmaßnahmen aber für zumutbar.

Es gibt Dutzende von Urteilen, in denen Verwaltungsgerichte über die Corona-Maßnahmen entschieden haben. Eine Tendenz in der Rechtsprechung sei nicht erkennbar, sagt Andreas Fisahn, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld. Weder heben die Gerichte behördliche Anordnungen grundsätzlich auf, noch werden diese grundsätzlich bestätigt. Vielmehr komme es immer auf den Einzelfall an und darüber hinaus »auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens und den Fortschritt der medizinischen Erkenntnisse«.

Für die Gerichte gilt es also auszuloten, ob die Gefahr einer Ansteckung mit der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme übereinstimmt oder ob es nicht andere Mittel gibt, die weniger tief in die Grundrechte eingreifen. »Hier haben die Gerichte im letzten halben Jahr an vielen Stellen Bedenken angemeldet und Anordnungen wieder aufgehoben«, sagt Fisahn. Sie korrigierten damit die Entscheidungen der Exekutive. So soll es sein, sagt der Rechtsprofessor, der auch Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac ist. Insofern funktioniere der Rechtsstaat.

Der Göttinger Soziologe Berthold Vogel appelliert an die politischen Entscheidungsträger, nach pragmatischen Lösungen in der weiteren Bekämpfung der Pandemie zu suchen. »Inzwischen wissen wir, dass nicht jeder Infektionsfall gleich zum totalen Kontrollverlust führt.« Deshalb befürwortet er, das »gesellschaftliche Leben vor Ort, in der Stadt, auf dem Land, in der Nachbarschaft und in Vereinen« wieder stattfinden zu lassen. Vogel, der über den gesellschaftlichen Zusammenhalt forscht, warnt davor, dass rigide Einschränkungen die sozialen Beziehungen arg belasten und gravierende Folgen haben können. Die bisherigen strikten Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung wirkten wie ein »Trennungsbeschleuniger«; die gesellschaftliche Ungleichheit werde verstärkt und die Vereinsamung gefördert. Ziel müsse daher sein, möglichst schnell zu einem »pandemiesensiblen Normalbetrieb« zurückzukehren.

Der Rechtsexperte Fisahn hält die Coronakrise für besorgniserregend. Er befürchtet, dass der Rechtsstaat durch das Regieren mit Verordnungen längst Schaden genommen hat. Das zentrale Problem sieht er nämlich in den Generalklauseln des Infektionsgesetzes, »die zu vergleichsweise intensiven Grundrechtseingriffen ermächtigen« und damit längst an der Substanz der Demokratie kratzten. Ohnehin stellt er eine besorgniserregende Tendenz fest, dass nämlich im Zuge der Krisen des letzten Jahrzehnts sich das Machtgefüge längst zugunsten von Experten und Verwaltungsspitzen verschoben habe. Es gelte, wachsam zu sein, lautet sein Aufruf, allerdings »ohne gleich in den allgemeinen Abgesang auf Demokratie und Rechtsstaat einzustimmen«.