nd-aktuell.de / 05.10.2020 / Kultur / Seite 5

Otfried Nassauer wird fehlen

Renommierter Friedensforscher ist gestorben. Ein Nachruf

René Heilig
Otfried Nassauer: Otfried Nassauer wird fehlen

Bereits seit Jahren, das war unübersehbar, wurde sein Körper schwächer und schwächer. Nun wurde Otfried Nassauer vor einigen Tagen leblos in seiner Berliner Wohnung aufgefunden.

Der Westfale, 1956 in Siegen geboren, studierte in Hamburg Theologie. Seine Augen verrieten viel davon, wie er sich fühlte. Er konnte überaus verschmitzt lächeln. Und hintergründig. Der Bärtige vermittelte bisweilen den Eindruck, als sei die Zigarette gerade für ihn erfunden worden. Oft fing er beim fachlichen Dialog einen Satz an, sog Rauch ein, nutzte die Pause zum Nachdenken und sagte: »Erinnere dich …« Das war oft eine Floskel, doch sie hatte Kalkül: Er wollte Menschen einbeziehen in seine Überlegungen, sie teilhaben lassen an seinem höchst umfangreichen Wissen über all das, was der Welt den Frieden raubt.
Otfried Nassauer wird fehlen. Er war einigen ein guter Freund und Kollege, vielen ein kluger Partner und für Zehntausende – ohne dass sie es wussten – ein überaus wichtiger Ratgeber, wenn sie gegen Rüstungswahn und Kriegsgefahren aufstanden. Otfried war auch Journalist, in vieler Hinsicht ein freier. Er mochte den Job, schrieb für Zeitungen, auch für das »neue deutschland«, gab Interviews, verfasste Manuskripte für die Sendereihe »Streitkräfte und Strategien« im NDR. Seine Expertisen konnte man auch in der Taz und im »Spiegel« lesen.

In den 80er und 90er Jahren arbeitete er in der Fachgruppe »Frieden und Internationales« der Grünen sowie in der Bundarbeitsgemeinschaft »Frieden« der Partei mit. Er beriet die Grünen-Fraktion im Bundestag vor allem in jener Zeit, da sich die Partei noch an ihre pazifistischen Wurzeln erinnern konnte. Später wurde er zum gefragten Ratgeber von PDS-Abgeordneten, hielt Kontakt in die Linksfraktion. Zugleich war er unverzichtbar für die vielen Linken, die kein Parteibuch brauchen, um politisch aktiv zu sein. Er war als hellwacher Informant für die Friedensbewegung enorm wichtig.

Das Netzwerk, das Nassauer schuf und pflegte, reichte weit über den deutschen Horizont hinaus. 1991 gründete er das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). Es war und ist von Bedeutung. Nicht, weil man es zum Institut erhob, was es im herkömmlichen Sinne wohl nie war – schon, weil es finanziell immer am Rand des Absturzes arbeiten musste. Dafür aber waren die Analysen des BITS, also in aller Regel die, die Nassauer noch bis kurz vor seinem Tod verfasste, sicherheitspolitisch auf hohem Niveau. Unter vielen Artikeln mit Aufreger-Charakter stand nicht sein Name, doch Insider wussten: Aha, Otfried hat mal wieder »einen gucken lassen …«

Ich habe nie erlebt, dass er sich hochtrabend Politikwissenschaftler nannte. Doch im Gegensatz zu manchen Dampfplauderern war er es, weil er den Mut hatte, auf Fakten gestützt sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Wie nur wenige durchleuchtete der Wissenschaftler, dem es immer wieder gelang, andere Experten ins Boot zu holen, die westliche Sicherheitspolitik verschiedener Epochen. Er maß sie ohne jeden belehrenden Ton an den Werten von Demokratie und Vernunft. Viele Leser, Zuhörer von Radiosendungen sowie Zuschauer von politischen Magazinen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen verdanken ihm Einblicke in die Nuklearstrategie der USA, an die auch Deutschland aufs Verderben gebunden ist. Er lieferte Argumente wider die ungebremste Nato-Osterweiterung und Informationen über die Reaktionen der Gegenseite. Er arbeitete investigativ und analysierte für verschiedene Nichtregierungsorganisationen die stetig wachsenden Rüstungsexporte deutscher Konzerne vor allem in Kriegs- und Krisengebiete.

Nachlesen lohnt. Wer in einer Internetsuchmaschine »Otfried Nassauer« oder »BITS« eingibt, organisiert sich Wissen über die Chancen für etwas mehr Frieden in der Welt. Den, lieber Otfried, hast du für dich jetzt hoffentlich gefunden.

Unser Autor betreute über viele Jahre als Redakteur dieser Zeitung den Bereich Friedens- und Sicherheitspolitik und war als solcher mit Otfried Nassauer gut bekannt.