nd-aktuell.de / 06.10.2020 / Politik

Demonstranten dringen in Regierungssitz in Kirgistan ein

Protestierende befreien Ex-Staatschef Atambajew aus dem Gefängnis

Bischkek. Nach der von Wahlbetrugsvorwürfen überschatteten Parlamentswahl in Kirgistan sind Demonstranten in den Regierungssitz in Bischkek eingedrungen. Der US-Sender Radio Free Europe veröffentlichte am Dienstag auf seiner Website Fotos, auf denen Protest-Teilnehmer in dem als »Weißes Haus« bekannten Gebäude zu sehen waren. Gegnern von Präsident Sooronbai Scheenbekow gelang es nach Augenzeugen-Angaben zudem, den inhaftierten Ex-Staatschef Alsambek Atambajew aus dem Gefängnis zu befreien.

Ein Aktivist, der an dem Sturm auf den Regierungssitz beteiligt war, sagte der Nachrichtenagentur AFP, hunderte Demonstranten hätten die Barrieren zu dem Gebäude überwunden. »Niemand hat versucht, es zu schützen, als die Menge eingedrungen ist«, sagte der Augenzeuge. Bevor die Demonstranten das Gebäude betreten hätten, hätten sie die Nationalhymne gesungen.

Später gelang es Demonstranten auch, das Gebäude des Komitees für nationale Sicherheit zu stürmen, in dem Ex-Präsident Atambajew eine elfjährige Haftstrafe wegen Korruption und Verbindungen zur Mafia absaß. Der Aktivist Adil Turdukow sagte AFP, regierungskritische Protest-Teilnehmer hätten Atambajew »ohne Gewalt und ohne den Gebrauch von Waffen« aus seiner Zelle befreit.

Auf im Internet veröffentlichten Aufnahmen war zu sehen, wie der 64-jährige Ex-Präsident seinen Anhängern beim Verlassen des Gefängnisses zuwinkte. Atambajew war von 2011 bis 2017 Präsident. Nach seiner Festnahme im August vergangenen Jahres hatte es heftige Ausschreitungen in Kirgistan gegeben. Seine Anhänger halten das Vorgehen gegen Atambajew für politisch motiviert.

Stunden vor der Besetzung des Regierungssitzes hatte es in Bischkek schwere Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizisten gegeben. Einen Protest am Ala-Too-Platz lösten die Sicherheitskräfte gewaltsam auf. Die Beamten setzten Schall- und Blendgranaten sowie Tränengas gegen die Demonstranten ein, die Scheenbekows Rücktritt forderten.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurden mindestens 120 Menschen verletzt, etwa die Hälfte von ihnen Sicherheitskräfte. Die Oppositionspartei Ata Meken teilte mit, auch Oppositionsführer Schanar Akajew sei durch ein Gummigeschoss verletzt worden.

Die wichtigen Oppositionsparteien Bir Bol und Ata Meken waren bei der Parlamentswahl am Sonntag laut der zentralen Wahlkommission an der Sieben-Prozent-Hürde gescheitert. Sie warfen Scheenbekow Wahlbetrug[1] vor und riefen zum Protest auf. Vom Sturm auf den Regierungssitz distanzierten sich die Parteien jedoch. Dieser sei von »Provokateuren« ausgegangen, sagte eine Vertreterin der Ata-Meken-Partei, Elwira Surabaldijewa.

Geschafft hatten den Einzug ins Parlament vier Parteien, von denen drei Scheenbekow nahestehen. Die größten Fraktionen stellen im neuen Parlament die Parteien Birimdik und Mekenim Kirgistan, die jeweils auf rund ein Viertel der Stimmen kamen und sich für eine vertiefte Integration mit Russland einsetzen.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sprach von »glaubwürdigen« Berichten über Stimmenkauf. Zugleich erklärten die Wahlbeobachter, die Abstimmung sei gut organisiert gewesen. Zudem hätten die Kandidaten einen fairen Wahlkampf führen können.

Das überwiegend muslimische Kirgistan mit seinen sechs Millionen Einwohnern gilt als das demokratischste Land in Zentralasien, zugleich aber auch als politisch besonders instabil.

Der Ala-Too-Platz war in der Vergangenheit Schauplatz politischer Auseinandersetzungen, die in den Jahren 2005 und 2010 zum Sturz von zwei autoritären Präsidenten führten.

Geschäftsleute befürchteten, dass es wie bereits bei den Protesten 2005 und 2010 zu Plünderungen kommen könne. Viele Ladeninhaber hätten Waren aus ihren Geschäften geräumt, berichteten Augenzeugen. Die Telefon- und Internetversorgung in Bischkek brach in der Nacht zum Dienstag teilweise ein. AFP/nd

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1142713.kirgistan-demokratische-reformen-in-gefahr.html