nd-aktuell.de / 07.10.2020 / Politik / Seite 10

Erdogan hui, Lukaschenko pfui

Özlem Alev Demirel über EU-Sanktionen gegen Belarus und die europäische Freundschaft mit der Türkei.

Özlem Alev Demirel

Vergangene Woche trafen sich die Führungsspitzen der EU zu einer Sondertagung des Europäischen Rats. Auf der Tagesordnung standen insbesondere außenpolitische und geostrategische Fragen, darunter auch die viel diskutierte EU-Türkei-Beziehung.

Im Vorfeld des Rates wurden pathetische Reden geschwungen. Der Hohe Vertreter und Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, erklärte, die Beziehungen der EU zur Türkei würden neu definiert werden.

Genauso markig wie der Auftakt fielen die Schlussfolgerungen der Beratungen aus.
Der Rat forderte dazu auf, die »Gewalt und Repression zu beenden«, »alle Inhaftierten und politischen Gefangenen freizulassen«, »die Freiheit der Medien und die Zivilgesellschaft zu achten« und »einen inklusiven nationalen Dialog einzuleiten«. Auch hielt man sich mit Drohungen von weiteren »restriktiven Maßnahmen« nicht zurück. Nur: Bei all diesen Verlautbarungen ging es gar nicht um Erdogan, sondern um Belarus.

Nur wenige Zeilen vorher ging es über mehrere Absätze um die Türkei. Doch vergeblich sucht man dort nach Forderungen zur Beendigung von Gewalt und Repression, zur Freilassung politischer Gefangener oder eines inklusiven nationalen Dialogs. Dabei passen die Forderungen, die an Belarus gerichtet wurden, doch auch wie die Faust aufs Auge auf die Türkei unter dem Erdogan-Regime.

Nur einige Tage vor dem Ratstreffen wurden wieder einmal Dutzende Oppositionelle inhaftiert. Eine große Repressionswelle, die noch schlimmeres für die Zukunft befürchten lässt. Zeitgleich zur Sondertagung goss Erdogan dann Öl in das Feuer des gerade entflammten Konflikts um Berg-Karabach. Der türkische Präsident bestärkte Aserbaidschan darin, den Konflikt militärisch zu lösen.

Fasst man aber die außenpolitischen Beschlüsse des europäischen Rats zusammen, kann man sagen: Sanktionen für Belarus, Freundschaft mit Erdogan.

Dieses Beispiel macht erneut deutlich, was Menschenrechte, Pressefreiheit und Zivilgesellschaft der EU bedeuten: Es sind Werte, die man hervorkramt, wenn sie als Mittel zur Erreichung von wirtschaftlichen und geopolitischen Zwecken gebraucht werden.Wenn sie den eigenen Interessen aber im Wege stehen, drückt man schnell ein Auge zu. Das macht die Sanktionspolitik der EU grundsätzlich unglaubwürdig.

Denn es liegt doch auf der Hand: Die Türkei ist zum einen in der NATO und zum anderen ein sehr wichtiger Markt für europäische Waren und deutsche Waffen.

Hinzu kommt die geografisch wichtige Position der Türkei. Sie hält der Europäischen Union die Flüchtlinge vom Hals. In den besagten Schlussfolgerungen liest sich das so: »Die EU hat ein strategisches Interesse an einem stabilen und sicheren Umfeld im östlichen Mittelmeerraum und an der Entwicklung einer kooperativen und für beide Seiten nutzbringenden Beziehung zur Türkei.«

All dies hat zur Folge, dass sich der Rat in der Causa Türkei nicht zu der demokratischen Empörung hinreißen lässt, die er gegenüber Belarus vollmundig vertritt. Eigentlich hat der Rat sogar einem Vorschlag Erdogans entsprochen, den dieser der EU kurz vor dem Gipfel in einem Brief unterbreitet hatte. Darin sprach er sich dafür aus, man solle »von Schritten und Beschlüssen absehen«, welche »die vorhandene Krise weiter verschärfen«. Man würde die Zollunion weiter voranbringen wollen und dafür der EU die Flüchtlinge abnehmen, so Erdogan. De facto bietet der Autokrat damit an, Moria in die Türkei zu verlagern. Der Rat nimmt solche Angebote dankend an.

Bleibt nur die Frage, wer unter diesen Bedingungen noch an die Werteunion glauben soll. Vielleicht sollte diese lieber gleich den Friedensnobelpreis zurückgeben. Das wäre wenigstens ehrlich.

Noch eins: Während richtigerweise die Vorbereitungen zu den Sondierungsgesprächen zwischen der Türkei und Griechenland laufen, zündelt Erdogan nicht nur in Berg-Karabach, er hat auch wieder mit einer neuen militärischen Offensive im überwiegend von Kurden bewohnten Norden Syriens gedroht. Dort hin sollen nach seinem Willen die in der EU nicht willkommen syrischen Flüchtlinge aus der Türkeiabgeschoben werden.

Man versteht sich.