nd-aktuell.de / 08.10.2020 / Kultur / Seite 14

Die Strafe mit dem Verbrechen bekämpfen

Auf Jagd nach sich selbst: Der Film »Eine Frau mit berauschenden Talenten« will eine hübsche, fast niedliche Story erzählen

Felix Bartels

Es fällt schwer, diesen Film nicht zu mögen, und das liegt zu geschätzten elf von zehn Teilen an seiner Hauptfigur. Patience (Isabelle Huppert) hat alles. Sie ist klug und witzig, gebildet und stilsicher, lebenserfahren und auch im Alter noch attraktiv. Sie hält die Hoheit über ihr Leben und arbeitet in einem Job, den sie gut kann: fürs Pariser Drogendezernat konspirative Gespräche arabischer Dealer abhören und übersetzen. Nur Geld fehlt ihr. Doch nicht weil sie arm wäre oder verschwenderisch - der Platz im Altenheim für ihre Mutter kostet mehr als 3000 Euro im Monat.

Als Patience bei der Arbeit den Sohn der liebenswerten Khadidja (Farida Ouchani), die ihre Mutter pflegt, vor der Strafverfolgung schützt, gerät sie an große Mengen von Drogen und beschließt, in das Geschäft einzusteigen. Im Milieu wird sie schnell bekannt als »die Alte« (was auch der französische Originaltitel ist, »La Daronne«, und im sagenhaft bescheuerten deutschen Verleihtitel, »Eine Frau mit berauschenden Talenten«, verlorenging). Das von ihrem Geliebten Philippe (Hippolyte Girardot) geleitete Dezernat macht sich unterdessen zur Hauptaufgabe, »die Alte« zu jagen. Während Patience also in ihrer Freizeit Geschäfte treibt und sich vor den rechtmäßigen Besitzern der Weed-Pakete verstecken muss, geht sie in der Berufszeit auf Jagd nach sich selbst.

Es scheint so naheliegend, das mit »Breaking Bad« zu vergleichen, dass man es auch lassen kann, zumal die Haltung eine ganz andere ist. Patience bleibt durch ihren Einstieg in die Drogenwelt unverändert, bleibt die selbe souveräne, immer ein wenig ironisch-distanzierte Person, das Düstere Heisenbergs fehlt ihr völlig. Überhaupt will der Film keinen Niedergang erzählen. Was schön ist, wäre da nicht das Problem, dass man eigentlich gar nicht weiß, was der Film überhaupt erzählen will. Der Plot ist schon einigermaßen stringent, aber der Gestus des Erzählten wechselt. Zu Beginn haben wir eine Crime-Story mit dem Schwerpunkt bei der Tat (nicht bei der Aufklärung), einen Thriller demnach. Im zweiten Drittel entwickelt sich das Ganze zu einer Komödie, und im letzten Teil sehen wir ein Charakterdrama. Das geht nicht auf, aber irgendwie stört es auch nicht, denn die unfassbare Isabelle Huppert spielt charmant über die schlecht gearbeiteten Nahtstellen der drei Teile hinweg.

Auch im Inhaltlichen will der Film nicht schwer sein. Das Soziale findet statt, ohne das käme die Handlung nicht in Gang. Wir sehen, wie die bürgerliche Gesellschaft, mit ihrem für nichts als öffentliche Ordnung noch zuständigen Staat, dem Einzelnen die Wahl lässt, sich finanziell zu ruinieren oder seine Angehörigen im Alter verrotten zu lassen, doch weil der Regisseur Jean-Paul Salomé nicht Ken Loach ist, bleibt das Soziale im Setting, und eine hübsche, fast niedliche Story legt sich darüber. Gewiss, es geht zum einen darum, dass man in dieser Gesellschaft, worin jeder sich selbst am nächsten sein muss (wenn er nicht untergehen will), mit Ehrlichkeit nicht weiterkommt. Patience hat viele Dinge richtig gemacht, sich um ihre Mutter gekümmert, ihre Kinder als Witwe großgezogen, erstklassige Arbeit in ihrem Job geleistet, und es wird gezeigt, dass all das nicht reicht. Wo Menschen, die nichts verbrochen haben, bestraft werden, scheint folgerichtig, die Strafe mittels Verbrechen zu bekämpfen. So viel Realismus immerhin.

Zum anderen zeigt die Story einfach das Muster einer Midlife Crisis beziehungsweise einer nachgeholten, denn Patience ist älter und scheint ihre verpasst zu haben. Die Beziehung zu Philippe leidet, so warmherzig sie ist, darunter, dass die beiden Liebenden auseinander streben. Sie will sich nicht noch einmal auf etwas einlassen, sucht ihre Freiheit im Alter, während er endlich ankommen will und die wärmende Enge einer Familie braucht. Seltsamerweise sind die Momente gegen Ende des Films, die diesen Konflikt stark herausstellen, die ersten, in denen man zur Einfühlung mit der Hauptfigur gelangt. Und merkt dabei, dass man sich den ganzen Film über in sie verliebt hat, doch sich eigentlich erst jetzt richtig für sie zu interessieren beginnt.

»Eine Frau mit berauschenden Talenten« (»La Daronne«): Frankreich 2020. Regie: Jean-Paul Salomé; Drehbuch: Hannelore Cayre, Jean-Paul Salomé. Mit: Isabelle Huppert, Hippolyte Girardot, Farida Ouchani, 104 Minuten.