nd-aktuell.de / 10.10.2020 / Kommentare / Seite 9

Ich komme mit Plänen in dein Fachwerkdorf

JEJA NERVT: Seid politisch, zieht aufs Land!

Jeja Klein

Gorleben ist raus aus dem Rennen um das sogenannte »Endlager« für strahlenden Atommüll. Das hat die Bundesgesellschaft für Endlagerung kürzlich bekannt gegeben. In der Region zwischen Berlin und Hamburg freuen sich gerade viele Leute, die teils seit 40 Jahren gegen die Verklappung des nationalen Atomschrotts in der niedersächsischen Provinz gekämpft hatten. Klar, in der Zwischenzeit sind die Bärte länger, das Kopfhaar loser und die politischen Ideen wirrer geworden. Doch seit der Besetzung einer Tiefbohrstelle, die 1980 als »Freie Republik Wendland« in die Geschichte der Anti-Atom-Bewegung eingegangen ist, haben sich im Landkreis viele Linke und Alternative niedergelassen.

Sie haben dort Kommunen und Projekte, Familien und Wahlfamilien, eine Tofurei oder eine Apfelmosterei gegründet. Sie leben in Bauwägen oder renovierten Bauernhäusern, bringen sich bei den Grünen, den Linken oder den außerparlamentarischen Bewegungen ein. Wenn die strahlenden Fässer aus Gorleben verschwunden sein werden, werden die Linken, ihre Kreativität und Kultur bleiben und die Region nachhaltig bereichern.

Nichtsdestotrotz ist das Wendland eine schrumpfende Gegend. Die Bevölkerungsentwicklung zeigt deutlich nach unten. Schon jetzt stehen in dem ausgedehnten Flächenlandkreis unzählige Häuser, Bauernhöfe, Gaststätten, Schulen und einiges mehr leer. In den nächsten Dekaden werden sich das Kapital und der Staat hier noch weiter zurückziehen. Das dadurch entstehende Vakuum wird besetzt werden - die Frage ist: von wem?

Während viele sich selbst überlassene Regionen im Osten der Republik oder etwa in Hessen kulturell nach rechts gewandert sind, dürfte im Wendland das Gegenteil passieren. Hier wird sich schon heute nicht nur in der Freiwilligen Feuerwehr engagiert, sondern mit Fridays for Future auf der Straße. Junge landwirtschaftliche Projekte wie die Solidarischen Landwirtschaften haben dem einen oder anderen niedersächsischen Kartoffelbauern schon vor Jahren die Entscheidung schmackhaft gemacht, auf ökologischen Anbau umzustellen. In der Bio-Quote ist der Landkreis jedenfalls Spitze. Und das schöne flache Land lockt jedes Jahr zur aus der Anti-Atom-Bewegung entstandenen Kulturellen Landpartie etwa 50 000 Tourist*innen an.

Ob in Berlin oder Leipzig: überall spielen Linke mit dem Gedanken, sich aufs Land zu verabschieden. Sie wünschen sich, auch für ihre Kinder, ein nachhaltigeres Leben in der Natur und weniger urbanen Stress. Und sie möchten sich weiterhin politisch in ihrem Lebensumfeld einbringen. Wieso also mit dem nächsten Projekt in Neukölln oder Prenzlauer Berg jemand anderem den spärlichen Raum wegnehmen, wenn das auch in Brandenburg, im Leipziger Umland oder eben im Wendland geht?

Der Landkreis Lüchow-Dannenberg kann ein utopisches Gegenmodell gegen überlaufene Großstädte sein, in denen die Menschen immer spezialisierteren, abstrakteren Lohnarbeitstätigkeiten nachgehen, während um sie herum die ökologische Katastrophe zuschlägt. Wenn der Sand für den gigantomanischen Betonbau ausgegangen ist, werden die Holzhäuser im Wendland ökologisch gedämmt und mit Erdwärme beheizt sein. Der Strom wird von den Sonnenkollektoren vom Dach und aus den hiesigen Windparks kommen. Die Menschen werden über das Internet arbeiten, während sie in ihren Gemüsegärten am Haus Radieschen ziehen.

Kein Scheiß: Vor ein paar Jahren habe ich für eine Ratsfraktion einer deutschen Großstadt einen Antrag zum Bau von Stellplätzen für den bald einsetzenden Pendelverkehr mit autonomen Flugtaxis vorgetippt. Halten Sie davon, was Sie wollen. Dabei saß ich in meinem Bauwagen, Internet gab es via Funkmast. Im Ofen knisterte das Feuer mit Holz, das ich selber geschlagen hatte. Manchmal bin ich von den Kühen auf der Weide nebenan wach geworden, als die anfingen, ihr morgendliches Muh-Konzert zu geben. Das war im Wendland. Sie finden, das klingt schön? Dann machen Sie doch was Sinnvolles: Ziehen Sie aufs Land.