• Kultur
  • Beilage zur Buchmesse Frankfurt Main

Das Bedürfnis nach dem »Wir«

Ein etwas unverbindliches Lesebuch über Christian Geissler: »Ein Boot in der Wüste«

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein fiktives Gespräch zwischen dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland Heinrich Bedford-Strohm und dem marxistischen Philosophen Slavoj Žižek zur Situation von geflüchteten Menschen im Mittelmeer. Bedford-Strohm ist entsetzt über den Hass, welcher der zivilen Seenotrettung entgegenschlägt. Er predigt: »mitten im sterben // der hass auf die rettung des menschen«. Und Slavoj Žižek, der als Marxist die gesellschaftlichen Bedingungen kennt, antwortet: »und du // du hörst hier jetzt endlich mal ganz fix auf // mit deiner humanität!« und ruft zum Klassenkampf auf.

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Sabine Peters/ Detlef Grumbach (Hg.): Christian Geissler. Ein Boot in der Wüste.
Verbrecher-Verlag, 220 S., br., 16 €.

So oder so ähnlich würde wohl eine Diskussion zwischen den beiden Männern aussehen. Die Versform und die - in linksradikaler Tradition stehende - Kleinschreibung verrät allerdings bereits, dass es sich um jemand anderen handeln muss, von dem diese Worte stammen. Gesprochen hat sie Christian Geissler am 6. Mai 2005 in einem Dortmunder Buchladen. Es war der letzte öffentliche Auftritt des Schriftstellers und Dokumentarfilmers, bevor er drei Jahre später an einem Krebsleiden starb.

Für Geissler passt die Verbindung aus Christentum und Kommunismus. 1928 geboren und mit 15 Jahren in den Zweiten Weltkrieg eingezogen, studierte er nach dem Krieg Theologie und stieß Ende der 50er Jahre zur links-katholischen Bewegung um die »Werkhefte katholischer Laien«. Als im Umfeld der verbotenen KPD 1965 die Kulturzeitschrift »Kürbiskern« gegründet wurde, war er Mitherausgeber und Redakteur. In den 70er und 80er Jahren sympathisierte Geissler offen mit der Rote Armee Fraktion und näherte sich mehr und mehr antiimperialistischen Kämpfen an. Bis wenige Jahre vor seinem Tod verteidigte er öffentlich den bewaffneten Kampf als Form linker Politik.

Diese politische Entwicklung spiegelt sich auch im literarischen Schaffen Geisslers. Bereits sein Debütroman »Anfrage« von 1960 mischte die westdeutsche Literatur gehörig auf. Geissler beschäftigte sich mit der deutschen Schuld an der Shoah und schrieb vom Nachkriegsdeutschland als einer Gesellschaft, in der die alten Nazis unbehelligt weiterleben können und die Opfer sich wieder verstecken müssen. Der Roman machte ihn auf einen Schlag bekannt, der NDR adaptierte ihn für das Fernsehspiel.

Geisslers letzter großer literarischer Erfolg war »kamalatta« - das »romantische Fragment« erschien 1988. Darin zeichnet Geissler ein weites, multiperspektivisches Bild des linken Widerstands in der Bundesrepublik der 70er und 80er Jahre. Das Buch berichtet von den zahllosen Fraktionen der revolutionären Linken. Es tauchen keine einzelnen Helden oder Protagonisten auf, sondern zahlreiche Organisationen und Akteure, die nebeneinanderstehen und damit auch Geisslers Bedürfnis nach einem politischen »Wir« im Gegensatz zum vereinzelten »Ich« ausdrücken.

Seit 2013 bringt der Berliner Verbrecher-Verlag eine Werkausgabe Geisslers heraus. Das dort nun erschienene Lesebuch »Ein Boot in der Wüste« versammelt Romanauszüge sowie fragmentarische, teilweise unveröffentlichte Textsplitter.

Neben »Anfrage« und »kamalatta« finden sich Ausschnitte aus den Romanen »Das Brot mit der Feile« (1973) und »Wird Zeit, dass wir leben« (1976), die mit »kamalatta« eine Trilogie bilden, teilweise mit denselben Romanfiguren. »Das Brot mit der Feile« handelt von jungen Arbeiter*innen in der BRD der 60er Jahre, die sich den Kommunisten anschließen, »Wird Zeit, dass wir leben« thematisiert politische Konflikte unter Linken vor und nach dem Sieg der Nazis 1933.

Daneben findet sich noch die eingangs erwähnte Rede Geisslers zum Tag der Befreiung 2005, in der er sich auch mit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985 beschäftigt. Weil dieser damals als konservativer Politiker erstmals vom »Tag der Befreiung« gesprochen hatte, empfanden viele dessen Rede als »neuen Wind« - nicht aber Geissler, der resümiert: »es ist bei windungen geblieben«.

Der von der Schriftstellerin Sabine Peters, die seit 1989 mit Geissler verheiratet war, und dem Vorsitzenden der Christian-Geissler-Gesellschaft Detlef Grumbach herausgegebene Band will »Geisslers Werk vorstellen und Appetit auf das Ganze machen«, so heißt es beim Verbrecher-Verlag. Dies gelingt nur in Teilen. Die erstmals veröffentlichten Fragmente bleiben seltsam unverbunden mit den Romanausschnitten, und insbesondere bei »kamalatta« wird deutlich, wie wenig die 24 ausgewählten Seiten dem Kaleidoskop und der Montage des über 600-seitigen Textes gerecht werden können. Dies ist jedoch kein Argument gegen Geissler, sondern eine dezidierte Empfehlung, sich mit dessen Werk vertraut zu machen.

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