nd-aktuell.de / 24.10.2020 / Sport / Seite 29

Die Schönheit des Versinkens

Jennifer Wendland, Weltjahresbeste im Freitauchen, taucht mit Freude bis zu 120 Meter tief hinab ins Meer

Jirka Grahl

Hallo Frau Wendland, ich rufe Sie gerade in Griechenland an, wo Sie trainieren. Was haben Sie denn heute schon trainiert?

(lacht)

Heute habe ich tatsächlich einen freien Tag. Außer ein bisschen Stretching ist nicht viel passiert. Morgen früh gegen Neun geht’s aufs Boot und dann fahren wir aufs Meer raus, wenn der Wind es zulässt. Ich mache einen tiefen Tauchgang und dann fahre ich wieder nach Hause.

Was ist der tiefste Tauchgang, den Sie je unternommen haben?

120 Meter in der Disziplin »No limits«. Man lässt sich von einem sogenannten Schlitten mit einem Gewicht in die Tiefe ziehen und steigt dann mit Hilfe eines Hebeballons wieder auf. Das ist relativ langweilig, aber zu Trainingszwecken interessant. Vor allem wegen des Druckausgleichs. Sind Sie Taucher, oder soll ich Ihnen das Thema erläutern?

Bitte erklären Sie es!

Sie kennen das Druckgefühl in den Ohren, wenn man mit dem Flugzeug landet? Das ist Unterdruck im Mittelohr, der dadurch entsteht, dass beim Sinken die Luft außen herum dichter wird. Im Mittelohr wird dieser Druckabfall nicht automatisch ausgeglichen. Mit Gähnen oder Schlucken kann man dagegen arbeiten. Das schaffen die meisten Leute von selbst. Beim Tieftauchen haben wir aber einen Druckunterschied, der so viel größer ist, dass der Ausgleich nicht mehr automatisch geht. Ich muss Luft ins Mittelohr bekommen, sonst würde mir das Trommelfell reißen. Das will ich natürlich nicht.

Klar.

Um das zu verhindern, brauche ich Luft. Leider steht davon mit zunehmender Tiefe immer weniger zur Verfügung. Auf zehn Metern ist die Lunge nur noch halb so groß wie an der Oberfläche, auf 20 Metern nur noch ein Drittel. Und wenn wir dann von 80, 90 Metern sprechen, ist in der Lunge nicht mehr viel Volumen übrig, das man benutzen kann für den Druckausgleich in Richtung Ohren. Ich muss deswegen schon zwischen 20 und 30 Metern ganz viel Luft in meinem Rachenraum speichern. Ich plustere dazu die Wangen auf wie ein Frosch, und die Luft, die ich dann im Mund habe, darf nicht zurück in meine Lunge, dort bekäme ich sie nicht wieder heraus. Gleichzeitig muss ich die Zunge wie einen Kolben benutzen, um Luft nach hinten Richtung Ohren zu schieben. Diese Fähigkeit ist keinem Menschen angeboren, mir fällt es relativ schwer und ich muss echt viel Zeit investieren, sie zu trainieren. Ich könnte von der Tauchzeit her viel tiefer kommen und auch gut wieder rauf, aber ich habe halt manchmal nicht genug Luft übrig, um noch Druckausgleich in den Ohren herzustellen.

Geht man im Training in dieselben Tiefen wie im Wettkampf?

In der Regel sogar ein Stück tiefer. Man ist ja lockerer, und im Freitauchen ist das Wesentliche, dass man vollkommen entspannt ist. Jede Anspannung verbraucht unnötig Sauerstoff und verkürzt die Zeit, die man unterwegs sein kann. Im Wettkampf gibt man vorher an, wie tief man tauchen wird. Im Normalfall würde ich schon ein paar Meter weniger angeben, als ich im Training geschafft habe, um auf der sicheren Seite zu sein. So werde ich nicht nervös, ich weiß, dass ich den Tauchgang stets sauber beenden kann, ohne dass was passiert.

Sie betreiben eine Sportart, in der Sie sich in Lebensgefahr begeben, aber auf der anderen Seite keine Angst haben dürfen?

Mmh, also Angst ist auf jeden Fall komplett abträglich, sie erhöht den Puls, die Anspannung der Muskulatur, das verbraucht viel Sauerstoff. Zum Thema Lebensgefahr: Ich kann verstehen, dass es für den Außenstehenden wie etwas total Verrücktes, Gefährliches aussieht. Doch wenn man sich an die Regeln hält, ist Freitauchen ungefährlich. Ich bin immer an einem Seil gesichert, im Notfall kann ein Gegengewichtssystem ausgelöst werden, das mich automatisch nach oben bringen würde. Die letzten 20, 30 Meter zurück wird man von Sicherungstauchern begleitet. Natürlich tauche ich nie allein, und ich gehe wirklich nur in Tiefen, von denen ich weiß, dass ich wieder heraufkomme.

Wie fühlt sich das an in 90 Metern Tiefe? Spürt man die enormen Wassermassen, die auf einem liegen?

Der menschliche Körper besteht ja im Schnitt aus 70 bis 80 Prozent Wasser und das kann nicht komprimiert werden. Das heißt, im Wasser fühlt es sich auch in der Tiefe genau so an wie an der Oberfläche. Den Druck spürt man in den Ohren und dass die Lunge deutlich kleiner wird, wie ein Tennisball etwa. Das merkt man. Bei einem Untrainierten könnte die Lunge reißen, doch ich habe ja vorgesorgt und die Flexibilität von Zwischenrippenmuskeln, Zwerchfell und Bauchmuskulatur trainiert.

AIDA WCh Roatan 2017 Jennifer Wendland CNF BRONZE NR

Wie oft werden Sie bei einem Sportarzt vorstellig?

Ich muss auf jeden Fall jedes Jahr meinen Leistungstest machen, um einmal zu gucken, dass Herz, Lunge und was auch immer alles daran beteiligt ist, dass das alles gut funktioniert und ich fit bin.

Spätschäden, was ist damit?

Das ist die große Frage, so lange gibt es unseren Sport ja noch nicht, erst seit 20, 25 Jahren. Und Lungengewebe ist empfindlich. Wir müssen enorm aufpassen. Sie spielen vermutlich auf Hirnschäden an, die durch Sauerstoffmangel verursacht werden könnten? Nun, ich selbst habe noch keine an mir feststellen können (lacht).

Hilft auch das Reglement, nicht unvernünftig lange unter Wasser zu bleiben?

Wenn wir auftauchen, ist ein Oberflächenprotokoll zu absolvieren: Wir müssen innerhalb von 15 Sekunden die Maske abnehmen, ein Okay-Zeichen geben und Okay sagen. Zudem müssen wir uns noch 30 Sekunden selbstständig an der Oberfläche halten können. Sonst ist der Tauchgang ungültig.

Ist das Auftauchen der schönste Moment?

Höchstens bei Anfängern wegen der Erleichterung, endlich wieder atmen zu können. Mit zunehmender Erfahrung ändert sich das. Ein schöner Moment ist das Abtauchen: Anfangs muss man hinab schwimmen, gegen den Auftrieb, den Neoprenanzug und Luft in der Lunge erzeugen. Ab etwa 20 Metern Tiefe spätestens ist der Auftrieb weg: Man kann sich einfach fallen lassen, vollkommen entspannt. Man spürt, wie das Wasser übers Gesicht fließt, über die Hände. Ein schönes Gefühl. Aber auch den Weg nach oben liebe ich, selbst wenn er viel Arbeit bedeutet. Ich war in meiner Jugend begeisterte Schwimmerin und liebe es, mit der Monoflosse so viel Vortrieb zu erzeugen. Oder mich bei der Disziplin Free Immersion am Seil nach oben zu ziehen. Es wird heller, es wird wärmer, irgendwann hat man die Sicherungstaucher neben sich schwimmen, die einen anlächeln. Man weiß, hier kann nix mehr passieren.

Fühlt man sich einsam in der Tiefe?

Mir gefällt es, dass ich allein für mich verantwortlich bin. Ich bin komplett mit mir selbst beschäftigt, ich ruhe quasi in mir selbst. Mir gefällt diese Ruhe, die Stille. Da unten gibt es nicht viele Geräusche. Man hört vielleicht mal ein Motorboot in der Ferne, es gibt irgendwie nicht viel, was einen ablenkt. Es ist einfach ein sehr, sehr beruhigender Sport.

Sollten ihn viel mehr Leute betreiben?

Definitiv ja. Jeder, der keine gesundheitlichen Einschränkungen hat, kann Freitauchen lernen. Natürlich innerhalb seines Limits. Ich würde sagen, jeder normal gesunde Mensch kann 20 bis 30 Meter tief tauchen. Auch 50 bis 75 Meter sind möglich, wenn nicht sogar 100. Jeder kann lernen, drei oder vier Minuten die Luft anzuhalten. Es ist natürlich mit Training verbunden, aber es geht.