Loslassen, um zu fliegen

Die Distanz hören: Ein Gespräch mit Michael Wollny über Kontrolle und Kreativität.

  • Jan Paersch
  • Lesedauer: 7 Min.

Täglich kreativ sein - wie geht das?

Eine Routine in der kreativen Werkstatt gegen alle Widrigkeiten zu etablieren - das ist eine Aufgabe. Einige Kreative, die ich verehre, haben ganz strikte Arbeitsstrukturen. Keith Jarrett, David Lynch, das sind richtige Gewohnheitskreaturen. Da ist natürlich etwas dran, denn wer für sich Strukturen etabliert, erringt damit letztlich Freiheiten. Wenn alles unstet und flüchtig ist, erfordert das zunehmend Kraft, um sich wirklich frei zu fühlen. Man braucht diese Ankerplätze und Häfen, um anzukommen. Zudem kommen einem manchmal die Ideen in den schlechtesten Momenten, wenn man überhaupt nicht kreativ sein will.

Zur Person

Michael Wollny wurde 1978 in Schweinfurt geboren. Der studierte Pianist, der heute mit seiner Familie in Leipzig lebt, gewann achtmal den Echo Jazz und bringt es mit seinen Alben seit 2014 regelmäßig auch in die Popcharts. Wollny hat im Duo, Trio und Quartett veröffentlicht, nun erscheint sein erstes Soloalbum seit 13 Jahren: »Mondenkind« (ACT).

Darauf sind neben Eigenkompositionen auch Stücke von Tori Amos, Sufjan Stevens und Timber Timbre zu hören; dazu Klassisches von Alban Berg und Rudolf Hindemith. Wollnys Musik ist weder deutlich in der Klassik noch in Jazz oder Pop zu verorten. Er langweilt nie; mit geisterhaften Arpeggien und subtilen Effekten kreiert er einen unheimlichen, faszinierenden Klangkosmos. Tatsächlich hat der Pianist seinen Output einmal als »Gothic Music« bezeichnet, in Anlehnung an die »Gothic Novel«, zu Deutsch: Schauerroman.

Der Leipziger Jazzpianist spricht mit Jan Paersch über Einsamkeit, Kreativität und seine Beziehung zum Publikum.

Was brauchen Sie, um Ihre Kreativität freizusetzen?

Das ist sehr abstrakt, das kann eine Idee oder eine Infrastruktur sein, auch eine Deadline. Nicht unwichtig: Das Instrument beeinflusst das Songwriting. Es gibt Gitarrensongs und Software-Songs. Auch die Tools, die man zum Schreiben benutzt, Papier und Bleistift oder Notationssoftware, setzen unterschiedliche Arrangement-Ideen frei. Das befeuert den Prozess. Aber man kann es unmöglich planen.

Wie sind Sie bei der Arbeit an Ihrem neuen Album »Mondenkind« vorgegangen?

Es war schon lange vor dem Lockdown als Soloalbum geplant, ein Mix aus geschriebenen Stücken und freier Improvisation. Eine wichtige konzeptionelle Entscheidung im Vorfeld war der Sound. Wir haben uns an einer klassischen Klangästhetik orientiert, bei der die Mikrofone den Raumklang einfangen, weiter entfernt vom Instrument. Die Aufnahmen Ende April dieses Jahres waren dann nur möglich, weil ich alleine war, sonst hätte man das Studio gar nicht öffnen können. Das Thema »Alleinsein« ist dann richtig groß geworden: abends allein im Hotel, als einziger Gast, allein in den Straßen von Berlin und dann allein in einem fensterlosen Raum - in einem Studio wie eine Raumkapsel. Das hat geholfen - ich bin plötzlich ganz aufmerksam geworden.

Sie zitieren im Booklet Erinnerungen des als »einsamsten Menschen der Welt« titulierten Michael Collins, der mehr als 24 Stunden lang alleine den Mond umkreiste, während Neil Armstrong der erste Mensch auf dem Erdtrabanten wurde. Collins spricht von der Anspannung in seinem Raumschiff, aber auch von einem Hochgefühl. Wie erklären Sie sich das?

Das kennt jeder: Wenn der Druck sehr groß ist, wird man plötzlich ganz ruhig. Man kann nicht anders, als sich ganz zu erden, und ist plötzlich ganz bei sich. Wenn Verzweiflung und Einsamkeit ein bestimmtes Gewicht erreichen, verwandelt eine körperliche Reaktion diese Gefühle in einen zufriedenen Moment. Weil das das einzige Greifbare ist. Das ist vegetativ, man kann es gar nicht kontrollieren. Collins’ Situation, in einer kleinen Kapsel um etwas herum zu rotieren und dabei mit sich selbst in Einklang zu kommen, spricht stark zu mir.

Druck äußert sich oft in Form von Lampenfieber. Das kennen Sie, nehme ich an?

Das verliert man nicht. Die Anspannung ist notwendig; ich gehe nie routiniert auf die Bühne. Die Situation ist immer wieder eine Überforderung. Du gehst raus und beweist in anderthalb Stunden dein ganzes Sein. Auch mit vorbereiteter Setlist ist ja vieles offen. Alles oder nichts, alles andere wird unwichtig! Und daran gewöhnt man sich nie so ganz.

Ich kann auch nicht bei jedem Konzert davon ausgehen, dass es eine Sternstunde wird. Dinge bekommen ihren Wert erst in ihrer Unverfügbarkeit - der Soziologe Hartmut Rosa hat darüber ein Buch geschrieben. Man strebt als Künstler immer nach einem Moment der Einheit mit sich und dem Material und dem Raum. Wenn das nicht passiert und der Kopf zu voll ist, kann Routine helfen. Das Spiel ist aber nicht, die Absicherung nach unten neu zu finden, sondern: Wie sehr kann ich loslassen, um zu fliegen?

Der kreative Höhenflug - funktioniert der nur mit Besessenheit?

Ganz ohne geht es nicht. Eine Grundangst der Menschen ist doch, vor einer Menschenmenge etwas darbieten zu müssen. Sich damit tagtäglich auseinanderzusetzen, geht nur mit einer gewissen Besessenheit: Die Kraft, etwas herauszulassen, ist stärker als die Angst. Ekstase, Fieber, Wahn: Das ist im Alltag etwas Krankhaftes - und auf der Bühne etwas Notwendiges.

Trägt jeder diese Besessenheit in sich?

Eine solche Leidenschaft kann nur abrufen, wer das richtige Medium findet. Jeder Kreative kennt das Gefühl, das »es« durch einen hindurch musiziert, schreibt, malt, spricht. Manchmal habe ich das Gefühl, die Instrumente sind unsere Avatare und machen die Musik. Als ob ich das fernsteuern ließe.

Der Künstler ist also nicht Herr seiner selbst und produziert etwas, über das er keine Kontrolle hat?

Ja, man gebiert da irgendwelche Engel und Monster, die ein Eigenleben haben. Eine alte Umschreibung für Besessenheit ist, in fremder Sprachen zu sprechen. Sich anders, sich unkontrollierter zu äußern, als es die Norm ist. Künstlerische Äußerungen gehören dazu.

Große künstlerische Momente sind unverfügbar, wie Sie bereits ausführten. Läuft das der Erwartungshaltung des Publikums entgegen?

Genau, und vielleicht ist der Ausweg dazwischen die Ekstase. Sich so in der Kunst verlieren, dass alles andere klein wird, auch die Erwartungshaltung. Das Scheitern ist nicht mehr im Kopf, es geht nur um das Spielen. Musizieren ist ja etwas total Sinnliches und Haptisches, man kann es sogar riechen. Es ist ganz nah am Körper und gar nicht kopfig. Gegenüber diesem Rauschhaften und Unbewussten steht das Vorbereiten und Verstehen.

Für diese ruhige, rationale Seite hatten Sie viel Zeit in den letzten Monaten.

Deshalb ist dieses Jahr für uns Musiker so schwierig. Weil da etwas in Imbalance geraten ist. Man braucht Zeit zum Nachdenken und Hinterfragen, aber es gibt immer den Moment, in dem man sich davon befreit - auf der Bühne. Und den gibt es eben in diesem Jahr nicht. Der Bühnenrausch hat etwas Reinigendes, aber es gibt jetzt dieses Übergewicht im Kopf. Zu viel nachdenken kann auch ungesund sein.

Was löst das Publikum in Ihnen aus?

Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nur dann den Mut habe, bestimmte Sachen zu tun, wenn es auf der Bühne vor einem Publikum stattfindet. Weil das der Moment ist, in dem Energie stattfindet. Diese Energie lässt sich schwer in Worte fassen. Es ist ungeplant und ist nur in einem einzigen Moment richtig gewesen. Das hat für mich etwas von Ekstase. Man spürt die Anwesenheit von etwas Drittem.

Eine unausgesprochene Erwartungshaltung an die Zuhörenden?

Mehr als das. Es gibt in der Quantenphysik ein Experiment, bei dem sich Teilchen anders verhalten, wenn man sie beobachtet. Es gibt also Welten, in denen nicht bloß der Akteur, sondern auch der Beobachter eine Rolle spielt. Das kann ich als Bühnenmensch unterschreiben. Es ist etwas völlig anderes, für sich im Raum zu proben. Sobald nur einer zuhört, ändert das den Prozess total.

Ist das eine intime Beziehung, die der Musiker mit seinem Publikum führt?

Ganz sicher. Man kommt sich mit Akustik, mit bewegter Luft, so nahe wie mit nichts anderem. Musik bewegt dein Trommelfell und löst chemische Reaktionen aus. Bei Pulp-Sänger Jarvis Cocker klingt das ziemlich mehrdeutig so: »I penetrate your ears« - ich bin in dir drin. Es geht über den Umweg des Instruments, aber es ist eine äußerst sinnliche Kommunikation, auch weil alle anderen Sinne keine große Rolle mehr spielen. Umgekehrt gilt das auch: Man nimmt das Publikum jeden Abend sehr wahr, wie eine echte Berührung. Ich erhalte eine Idee, die nicht von mir kommt - und dafür sind die Zuhörer verantwortlich. Das ist sehr körperlich. Ich werde im Innersten bewegt, nicht durch Einzelne, sondern durch das, was all diese Menschen an diesem Abend aussenden, atmen und hören.

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