nd-aktuell.de / 29.10.2020 / Kultur / Seite 13

Der unbekannte Alltag der Sieger

Elke Scherstjanoi hat Veteranen der Roten Armee zu ihren Erinnerungen an Deutschland befragt

Andrée Fischer-Marum

Über die sowjetische Besatzungszeit in einem Teil Deutschlands nach der Befreiung vom Faschismus gibt es zahlreiche, gegensätzliche wissenschaftliche Abhandlungen wie auch Zeitzeugenberichte. Die Erinnerungen von Ostdeutschen reichen von Freude und Erleichterung, vom NS-Terrorregime endlich befreit worden zu sein, über die Schilderung der Bemühungen und Schwierigkeiten, die Versorgung wieder herzustellen und Kriegszerstörungen zu beseitigen bis hin zu negativen Erfahrungen mit Besatzungssoldaten, Requirierungen, Diebstahl und Vergewaltigungen, sowie der Verwunderung über den großen Gegensatz von technischem Fortschritt auf Seiten der östlichen Siegermacht, etwa bei der Bewaffnung, und zeitgleich - für die Deutschen - unvorstellbarer Armut, für die symbolisch der Panjewagen steht, mit dem die sowjetischen Truppen in die Städte und Dörfer einzogen.

Dagegen begegnet man höchst selten der Sicht der Besatzer, wenn, dann in wenigen autobiografischen Darstellungen, zum Beispiel von sowjetischen Kulturoffizieren. Das mag daran liegen, dass solche Erinnerungen kaum ins Deutsche übersetzt wurden, weder in der DDR noch in den 30 Jahren des zusammengeschlossenen Deutschland. Das Buch »Sieger leben in Deutschland« schließt die Wissenslücke über jene Zeit vor 75 Jahren. Sehr erstaunlich, bedenkt man, dass zwischen 1,5 Millionen (1945) und 600 000 (ab 1949) sowjetische Armeeangehörige in der sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR lebten und Dienst taten. Über deren Alltag ist so gut wie nichts bekannt.

Die Berliner Historikerin Elke Scherstjanoi hat zum Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus ein ungewöhnliches »Lesebuch mit Bildern« herausgebracht. Die profunde Kennerin deutsch-sowjetischer Geschichte berichtet über die ersten drei Nachkriegsjahre aus der Sicht sowjetischer Soldaten. Die Soldaten und Offiziere der Roten Armee hatten das Wüten deutscher Truppen in ihrer Heimat erlebt, sind durch verbrannte Dörfer und Städte gezogen, sahen die von den Okkupanten gemordeten Landsleute, erfuhren von der grausamen Behandlung ihrer kriegsgefangenen Kameraden, als sie die Konzentrationslager befreiten. Sie sahen das Leid, das auch den Häftlingen aus anderen von Nazideutschland überfallenen Ländern, insbesondere Juden, angetan worden ist. Nun standen sie als Sieger in dem Land, von dem verheerende Verbrechen ausgegangen waren. Wie sollten sie der deutschen Bevölkerung begegnen, welche Erlebnisse hatten sie im Kontakt mit jener und welche Eindrücke nahmen sie mit, als sie in die Heimat zurückkehrten? Inwiefern haben der Krieg und die Jahre in Deutschland ihren weiteren Lebensweg bestimmt?

152 zeitgenössische Fotografien umrahmen die zwölf Gespräche, die Elke Scherstjanoi mit ehemaligen Soldaten und Offizieren ab Anfang der 2000er Jahre führte: acht Männer und drei Frauen, zur Zeit der Interviews zwischen 68 und 95 Jahre alt, zwei von ihnen erinnerten sich als Kinder von Besatzungsangehörigen. Sie erzählten aus ihrem Alltagsleben, was eher untypisch für die Memoirenliteratur sowjetischer Militärangehörigen war und ist. Umso dankbarer kann man Elke Scherstjanoi sein, diese letzten Zeitzeug-innen und Zeitzeugen angeregt zu haben, ihre Erinnerungen an diese Zeit weiterzugeben. Zudem ist dieser Band auch typographisch hervorragend gestaltet. Die Fotos bekunden den Stolz der Rotarmisten und Rotarmistinnen, zu denen zu gehören, die den Faschismus besiegt hatten. Sie gruppierten sich mit Kameraden und Kameradinnen vor deutschen Denkmälern, postierten sich mit ihren Waffen auf einen geknackten Bunker oder stolz neben einem Motorrad oder gar Auto, das man fuhr. Es gibt auch einige Aufnahmen mit deutschen Zivilisten, beispielsweise Mitglieder einer von der Besatzungsmacht eingesetzten neuen Stadtverwaltung. Auf mehreren Fotos ist ein Akkordeon zu sehen, ein Musikinstrument, das die Rotarmisten auf ihrem langen, opferreichen Marsch bis Berlin begleitet hatte. Die Bilder stammen nicht von den Gesprächspartnern, illustrieren deren Erinnerungen jedoch treffend.

»Die Soldaten hatten die furchtbaren Zerstörungen des eigenen Landes gesehen«, schreibt Elke Scherstjanoi. Im Vergleich dazu wirkten die deutschen Dörfer und Städte, durch die sie kamen, unversehrt. »Da kam so ein bitteres, drückendes Gefühl auf, dass die Welt ungerecht ist: Warum soll es uns nun so schlecht gehen und denen, die uns überfallen haben, geht es weiterhin so gut?« Die Herausgeberin räumt ein: »Natürlich hat der Soldat eingepackt. Das verurteile ich nicht. Doch wo er mit Gewalt vorging, wo er Einrichtungen zerschlug, alles beschmutzte, das muss man verurteilen.«

In ihrer Einleitung informiert die Herausgeberin sachlich über die Hintergründe. Sie schildert sodann, wie aus Besetzern Freunde werden sollten und auch zum Teil geworden sind. Elke Scherstjanoi merkt an: »Weder die Geschichten noch die Bilder und auch nicht beides zusammen decken das weite Spektrum an realen Erlebnissen und Erfahrungen ab.« Und sie fügt hinzu: »Wir wissen, dass die Nachkriegszeit in Deutschland zuhauf auch andere Begebenheiten und Akteure gesehen hat, vor allem auch traurige Episoden, härtere Schicksale, schlimmere Herausforderungen, Verbrechen und Unglücksfälle - unter Deutschen, unter ›Russen‹ und bei ihrem Zusammentreffen.«

Elke Scherstjanoi: Sieger leben in Deutschland. Fragmente einer ungeübten Rückschau. Zum Alltag sowjetischer Besatzer in Ostdeutschland 1945- 1949. Edition Schwarzdruck, 236 S., geb., 27 €.