nd-aktuell.de / 30.10.2020 / nd-Commune / Seite 42

Der Professor im Hosenladen

Erinnerungen an den Umgang mit DDR-Wissenschaftlern nach der Wende

Erhard Meueler

Von 1981 bis 2003 hatte ich eine Professur für Erwachsenenbildung und außerschulische Jugendbildung an der Uni Mainz inne. Noch vor der Wende wandten sich zwei, drei DDR-Kollegen an mich mit der Bitte, ihre Aufnahme in die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) zu befürworten. Zu dieser Zeit war ich schon einige Jahre Sprecher der DGfE-Fachkommission Erwachsenenbildung und entsprach der Bitte in der üblichen, bislang noch nie infrage gestellten Form, indem ich eine einzeilige Empfehlung an den Vorstand schickte. Der aber stellte sich massiv quer: Der Eintritt der DDR-Kollegen müsse jeweils mit einem großen systematischen Gutachten begründet werden. Das verweigerte ich mit guten Gründen, sodass der DGfE-Vorsitzende und sein Stellvertreter eigens nach Mainz kamen, um mich zu diesem Gutachten zu bewegen. Ich weigerte mich weiter vehement, woraufhin der Vorstand die DDR-Kollegen nur als »Gäste« ohne Stimmrecht zuließ, was sich ja dann sehr schnell als obsolet erwies.

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Nach der Wende erschien ein Buch, an dessen Titel ich mich nicht erinnere. Es enthielt Berichte darüber, wie DDR-Wissenschaftler aus ideologischen Gründen zugunsten von Westlern von ihren Arbeitsplätzen verjagt wurden. Ich schrieb eine Besprechung dieses Buches für die »Hessischen Blätter für Volksbildung«, die ich ungefähr wie folgt einleitete: Bei der gewaltsamen Kolonisierung Südamerikas durch die Spanier und Portugiesen samt mitreisenden Priestern seien immer die vorgefundenen Tempel und Sakralstätten zerstört und abgebrannt worden. Diese Parallele dränge sich jetzt ins Bewusstsein, wenn die DDR-Unis von ihrem bisherigen Lehrpersonal gereinigt und dieses durch westliche Wissenschaftler ersetzt werde, damit dort nie wieder ein sozialistischer Gedanke Platz greifen könne. Zum Zweiten verwies ich darauf, dass der dafür verwendete Verwaltungsbegriff »Abwicklung« aus der Nazizeit stamme und dort der behördliche Oberbegriff für die Arisierung jüdischen Vermögens gewesen sei.

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Die Herausgeber der Zeitschrift lehnten die Buchbesprechung ab, trauten sich aber nicht, mir dies schriftlich mitzuteilen, sondern sie erzählten meiner Frau am Telefon irgendwas in der Art, dass mein Text politische Polemik, aber keine echte Besprechung darstelle.

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Im Zug aus dem Odenwald zum Arbeitsplatz Mainz traf ich regelmäßig einen DGB-Rechtsanwalt, der mir, als die Rede auf die Treuhandanstalt kam, voller Zorn erzählte, dass aus seinem Studienjahrgang der leistungsmäßig Allerletzte, der nur mit Ach und Krach oder Wiederholung sein erstes Staatsexamen geschafft habe, jetzt einen entscheidenden Posten bei der Treuhand bekleide.

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Als Anfang der 90er Jahre zehn Pädagogikprofessuren für die Humboldt-Uni Berlin bewilligt und besetzt wurden, bekam ich als externer Gutachter alle 30 Kandidatennamen (jeweils erster bis dritter Platz pro Professur) zur Begutachtung. Darunter war nur ein einziger DDR-Wissenschaftler auf einem aussichtslosen dritten Platz, dies ausgerechnet in einer Pädagogikdisziplin, in der die DDR-Kollegen den Westdeutschen immer schon meilenweit voraus waren - in Geschichte der Pädagogik. Die wurde im Westen traditionell als zeitlose Ideengeschichte erforscht und gelehrt, in der DDR aber als Sozialgeschichte, was verständlicherweise heute Standard ist.

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Nach der Wende bewarb sich ein sehr renommierter Hegel-Forscher der Uni Leipzig auf eine Professur am Philosophischen Seminar der Uni Mainz. Dessen Professoren verweigerten mit ideologischen Zuschreibungen massiv die Berufung dieses Kollegen, die wir Pädagogen im gemeinsamen Fachbereich aber dann doch in einer Kampfabstimmung gegen die Philosophen durchsetzen konnten.

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Einige Monate nach der Wende betrat ich einen Hosenladen in meiner Kleinstadt und fragte den Besitzer, warum er keine Leinenhosen mehr führe. Er: »Sie haben Glück, das können Sie direkt den Firmenvertreter fragen, der ist gerade da.« Ich tat dies, und dessen Antwort war so elegant, dass ich ihn neugierig fragte, ob er immer schon Hosenvertreter gewesen sei oder vorher schon mal etwas anderes gemacht habe. Er: »Ich war Prorektor der Universität Rostock.«

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Schon vor Jahren sagte mir ein Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung, vor der Wende seien (mein Zahlengedächtnis ist ungenau, es geht mir um die Proportion) etwa zehnmal so viele ostdeutsche Intellektuelle an Universitäten, Instituten, in wissenschaftlichen Einrichtungen etc. in Lohn und Brot gewesen wie nach der Wende.