nd-aktuell.de / 30.10.2020 / nd-Commune / Seite 35

Es ging im Exil um Leben und Tod

Interview mit Monika Melchert über die mexikanischen Jahre von Anna Seghers

Wie sind Sie zu der Beschäftigung mit Anna Seghers gekommen?

Zwanzig Jahre lang unterrichtete ich deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2001 habe ich dann als freie Mitarbeiterin der Akademie der Künste Besucher durch die Wohnungen bzw. Museen von Anna Seghers, Brecht und Weigel geführt. Dabei kommt man natürlich auch den Biografien dieser Künstler nahe. Und da Anna Seghers selber beinahe nichts Persönliches von sich preisgegeben hat, hat mich gerade das herausgefordert, dem Geheimnis ihres Lebens und Schreibens auf die Spur zu kommen. Wir hatten früher ein etwas einseitiges Bild von ihr, so als sei sie jemand gewesen, die stets ohne Zweifel und ohne Verzweiflungen gelebt hat - was natürlich ganz falsch ist. Je mehr ich von ihr wusste, desto mehr war ich beeindruckt von der enormen künstlerischen Leistung dieser Schriftstellerin und ihrer besonderen Persönlichkeit. Da habe ich begonnen, über sie zu schreiben.

Was gewinnen Sie aus der Beschäftigung mit der Person der Anna Seghers?

Zuallererst liebe ich ihre Prosa, auch die wunderbaren Erzählungen, Mythen und Legenden (die auch vielen ihrer Leser längst nicht alle bekannt sind). Das ist natürlich das Entscheidende. Zugleich aber beeindruckt mich stark, was Frauen wie Anna Seghers damals im Krieg und in der Emigration geleistet haben: Ohne den Mut und das Durchhaltevermögen dieser starken Frauen hätten viele ihrer Männer diese grausamen Jahre wohl nicht überlebt. Diese unglaubliche Kraft, ihre Familien, ihre Kinder durchzubringen, ohne zu jammern und zu klagen!

Welche Relevanz haben Leben und Werk der Anna Seghers für jüngere Generationen?

Meine Erfahrung aus den zahllosen Führungen, die ich speziell auch für junge Leute in der Seghers-Gedenkstätte gemacht habe, zeigt, dass sie gerade durch die Jahre des Exils beeindruckt werden: Da ging es wirklich um etwas, es ging um Leben und Tod! Sich selber zu vertrauen, dem eigenen Vermögen, sein Leben und das seiner Liebsten zu retten, ist wohl genau das, was jungen Leuten imponiert. Nicht zuletzt der Erfolg des Films »Transit« von Christian Petzold 2017 nach Motiven des Romans von Anna Seghers unterstreicht das. Und ich sehe auch den Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik seit 2015: Plötzlich wurde uns wieder bewusst, dass es schon einmal eine solche dramatische Flüchtlingswelle gab, nämlich zu Beginn der Nazizeit. Damals mussten sich Tausende bedrohter Menschen aus Deutschland retten. Und wenn da andere Länder nicht bereit gewesen wären, Asyl zu gewähren, hätte es das Ende bedeutet. Deshalb wird die Erzählung »Der Ausflug der toten Mädchen«, die Anna Seghers nach ihrem schweren Unfall in Mexiko geschrieben hat und die in ihre eigene Jugend in Mainz zurückführt, auch von der jungen Generation viel gelesen.

Mit Monika Melchert sprach M. Pschera