nd-aktuell.de / 02.11.2020 / Politik / Seite 5

Der Rastlose

Zum Tod von Professor Peter Grottian

Benedict Ugarte Chacón

In einem Text zu seinem 70. Geburtstag im Mai 2012 konstatierte der Verfasser dieser Zeilen, dass Peter Grottian so gar nichts Professorales anhaftete. Diese Umschreibung war im höchsten Maße positiv zu verstehen. Zwar lehrte er von 1979 bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2007 am damals noch nicht zur besseren Governance-Hochschule abgestiegenen Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. Seine Lehrtätigkeit mit den Schwerpunkten Staats- und Verwaltungsforschung sowie Soziale Bewegungen verband er aber immer schon mit politischer Betätigung.

Nicht, dass er sich nicht mit derselben Verve um die Zustände von Lehre und Forschung bemüht hätte, wie er sich um seine ungezählten politischen Interventionen kümmerte. Er betreute ungezählte Diplom- und Doktorarbeiten, war für seine Studierenden ein zugänglicher und oft auch herzlicher Ansprechpartner und er stiftete in seinen Seminaren zu einem Eigensinn an, der einer durch und durch genormten Universität nur suspekt sein konnte. Er nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es um die universitären Zustände ging. In einem 1992 vom Spiegel veröffentlichten Interview warf er Professorenkolleg/innen vor, zwar auf vielen »Kongresshochzeiten« zu tanzen, die Studierenden aber zu vernachlässigen. Diese mangelhafte Betreuung in der Lehre mache ein Fünftel der Professorenstellen entbehrlich, man müsse solche Leute einfach rausschmeißen.

Irgendwann im Sommersemester 2003, es formierten sich gerade zaghaft die ein Semester später berlinweit ausufernden Studierendenproteste gegen die Sarrazin-Politik des damaligen rot-roten Senats, saß Peter Grottian auf den Stufen eines Hörsaals in der Silberlaube der Freien Universität Berlin. In dem Saal fand eine für Studierendenproteste recht untypische »Vollversammlung« statt. Untypisch deshalb, weil der Saal tatsächlich so voll war, dass kein Sitzplatz mehr frei war und der unprofessorale Professor sich, bekleidet mit der unvermeidlichen Strickweste und seine überbordende Lederkladde unterm Arm, kurzerhand auf der Treppe niederließ. Zu dieser Zeit regten sich an verschiedenen Ecken der Stadt Proteste. Der Senat hatte sein berüchtigtes Motto »Sparen bis es quietscht« ausgerufen und neben den Studierenden gab es zahlreiche Gruppen von Betroffenen der damaligen Kahlschlagpolitik. Grottian wäre nicht Grottian gewesen, hätte er im Zuge dieser aufkeimenden Proteste nicht versucht, verschiedene Gruppen und Milieus zusammenzubringen, um der Landesregierung und den sie tragenden Parteien vors Schienbein zu treten.

Denn die damals ausgerufene Sparpolitik betraf Universitäten, finanziell Schwache, Eltern von Schulkindern oder Blinde – gleichzeitig war aber die größtenteils landeseigene Bankgesellschaft mit mehreren Milliarden Euro vor dem Untergang gerettet und mit noch mehr Milliarden an Bürgschaften versehen worden. Kahlschlag hier – Milliardengeschenke da, ein Gegensatz, der geradezu zum Protest verpflichtete. Peter Grottian engagierte sich damals in der Initiative für ein Berliner Sozialforum und hatte mit einigen Mitstreiter/innen die Initiative Berliner Bankenskandal ins Leben gerufen. Gemeinsam mit streikenden Studierenden und anderen Betroffenen wurden Bankfilialen besetzt, das Abgeordnetenhaus wurde friedlich umzingelt, der mitregierenden PDS wurde ihre staatstragende Politik unter die Nase gerieben und es gab die legendären »Schwarzfahraktionen«, mit denen gegen die Abschaffung des Sozialtickets protestiert wurde. Wer bei einer dieser Aktionen erwischt wurde und die Strafe nicht bezahlen konnte, für den sprang Grottian ein. Überhaupt kam er mit privatem Geld für viele Aktionen, Druckkosten und Strafbefehle – seine und die anderer Leute – auf. Die damalige Protestintensität gegen die Senatspolitik ging nicht zuletzt auf das Rühren Grottians zurück.

Klassische Demonstrationen waren ihm oft zu langweilig. Mit Kreativität und diebischer Freude machte er sich immer wieder ans »Zündeln«, wie er das nannte. Er initiierte und inszenierte in den vergangenen Jahrzehnten ungezählte Respektlosigkeiten gegen die sogenannten Eliten. Hierzu gehörte zum Beispiel der Auftritt als Kardinal vor dem Agenda-2010-Parteitag der SPD. Einer scheußlichen Büste von Friedrich dem Großen ließ er das Gesicht eines zwielichtigen CDU-Politikers aufmontieren und präsentierte sie bei einem von der Initiative Berliner Bankenskandal organisierten »Grunewald-Spaziergang«, bei dem an den Villen von korrupten Politikern und Bankern vorbeidefiliert wurde. Die selbst ernannte Elite Berlins sah sich von solchen Spott-Aktionen dermaßen getroffen, dass ein mittlerweile abgehalfterter CDU-Fraktionsvorsitzender von Grottian und seinem »Pöbel« sprach und ein mittlerweile abgehalfterter CDU-Justizsenator gar eine »Pogromstimmung« bei den im Grunewald spazierenden Demonstrant/innen ausgemacht haben wollte.

Und die selbst ernannte Elite beließ es nicht beim Geifern, sondern holte zum Gegenschlag aus: Sie sorgte dafür, dass Grottian von mehreren V-Personen des sogenannten Verfassungsschutzes bespitzelt wurde. Die Verfassungsschützer hatten mit den Jahren einiges zu dokumentieren: Ob Interventionen zum 1. Mai in Kreuzberg, ob Proteste gegen das Hartz4-System, gegen Rüstungsexporte oder gegen Stuttgart21. In zahlreiche Bildungsstreiks brachte er sich ein. Und immer wieder initiierte er Aufrufe zu Aktionen des zivilen Ungehorsams, den er als das »Salz in der oft öden Suppe der Demokratie« begriff. Es verstand sich von selbst, dass er bei diesen Aktionen nicht nur beobachtend teilnahm. Auf einer Weihnachtsfeier der Initiative Berliner Bankenskandal heckte er mit anderen die Idee für ein Volksbegehren zur Offenlegung der Teilprivatisierungsverträge der Berliner Wasserbetriebe aus. Den großen Erfolg fuhren dann andere ein und wieder andere schmücken sich bis heute damit. Noch im September dieses Jahres organisierte er ein Tribunal gegen den internationalen Finanzinvestor BlackRock.

Peter Grottian brannte für seine Arbeit. Manchmal überschätzte er dabei seine gesundheitliche Konstitution. Dies hielt ihn aber nie davon ab, trotz mitunter schwerer Einschränkungen immer weiter und weiter zu machen. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann kämpfte er dafür. Und dann überfuhr er auch mal andere Leute mit seiner Sturheit. Er war oft ungeduldig, viel zu oft rastlos. Und bei allem auch irgendwie aus der Zeit gefallen. Er schrieb normalerweise keine E-Mails selbst, bespielte weder Homepage noch Social-Media-Kanäle. Ja, er war ein Bewegungsunternehmer der alten Schule – mit Telefon und Schreibpapier. Für so einen gibt es keine Nachfolger. Peter Grottian starb am vergangenen Donnerstag im Alter von 78 Jahren.

Benedict Ugarte Chacón war von 2008 bis 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter von Peter Grottian.