nd-aktuell.de / 02.11.2020 / Berlin / Seite 10

Autonome bleiben unversöhnlich

Nach der Räumung der »Liebig34« orientiert sich die radikale Linke auf einem Aktionswochenende

Darius Ossami

Die Rednerin auf der Auftaktkundgebung der Demonstration gegen Gentrifizierung und für den Erhalt von linken Freiräumen am Samstagabend am Helsingforser Platz in Friedrichshain findet klare Worte: Sie schimpft gegen Wohnungsnot und die jüngsten Räumungen der Kiezkneipe »Syndikat« und des Hausprojekts »Liebig34«[1]. Nicht die einzigen Projekte, die verschwinden, als nächstes sollen das Jugendzentrum »Potse«, die Kneipe »Meuterei« und der Köpi-Wagenplatz folgen, erinnert sie und verweist außerdem auf die am Donnerstagabend durch den »rot-rot-grünen Räumungssenat« beendete Hausbesetzung von Obdachlosen in der Habersaathstraße (»nd« berichtete). Doch all die Räumungen könnten die Ideen von Autonomie und Selbstbestimmung nicht verhindern, glaubt sie: »Die Kämpfe für eine Stadt von unten müssen vereint werden.«

Das war das Ziel der autonomen Aktions- und Diskussionstage, die am Wochenende in Berlin stattfanden und ihren Höhepunkt in der Demonstration am Samstagabend hatten. Eine Sprecherin der »Liebig 34« kündigte an, weiter kämpfen zu wollen: »Wie soll man Rechtsruck, Mietenwahnsinn und Zwangsräumungen ertragen, wenn wir uns nicht zur Wehr setzen?«, fragte sie in die Menge und gab die Antwort gleich mit: »Wir brauchen mehr Wut in unseren Bäuchen!«

»Schon mit Beginn des Aufzuges«, schreibt hingegen die Berliner Polizei, »stellten die Einsatzkräfte polizeifeindliche Redebeiträge, gefolgt von Aufrufen zur Konfrontation und Beleidigungen gegen den Senat von Berlin und die Polizei sowie eine aggressive Stimmung der Teilnehmenden fest«.

Kurz vor 20 Uhr setzten sich dann knapp 1200 Menschen in Bewegung und zogen durch den Friedrichshainer Südkiez - mit kämpferischen Parolen und engmaschig begleitet von einem Großaufgebot der Polizei. Insgesamt 600 Polizist*innen waren im Einsatz, auch ein Wasserwerfer stand bereit. Die Stimmung laut und zumindest verbal radikal, im Wesentlichen aber blieb es friedlich, nur vereinzelt flogen Steine und Flaschen. Jubelnd zogen die Demonstrant*innen an den wenigen verbliebenen Hausprojekten in der Rigaer Straße vorbei, die ihrerseits mit Feuerwerk und Musik antworteten.

Gegen 20:50 Uhr dann die große Überraschung: Aktivist*innen war es gelungen, auf das Dach des geräumten Hausprojekts »Liebig 34« zu gelangen, sie entrollten ein riesiges Banner mit der Parole »L34 forever«,[2] zündeten rote Bengalos und Feuerwerk und ließen sich von der Menge feiern. Die Polizei fand das weniger lustig: Sie trennte den mit Transparenten und Regenschirmen abgeschotteten Frontblock vom Rest der Demo ab und kesselte ihn ein. Die Eingekesselten mussten Faustschläge und Pfefferspray einstecken, es gab einige Festnahmen und Verletzte. Mindestens zwei Pressefotografen wurden von Polizist*innen gezielt geschlagen, ihre Kameras beschädigt.

Fast eine Stunde lang stand die Demo ausgerechnet vor der »Liebig 34«. Das gab den Demonstrant*innen ausgiebig Gelegenheit, solidarische Parolen zu rufen und zuzuschauen, wie Polizist*innen das ganze Haus erfolglos nach den Aktivist*innen absuchten. Immer wieder kam es zu Handgemengen und Rangeleien, vereinzelt flogen Farbbeutel, in der Zellestraße brannte eine kleine Barrikade aus Autoreifen. Immer wieder verirrten sich einzelne Partygäste in Halloween-Verkleidung zwischen den Polizeiketten. Als die Demonstration dann als Wanderkessel weiter bis zum Bersarinplatz ziehen durfte, war sie stark dezimiert und löste sich dann kurze Zeit später gegen 22 Uhr auf.

Die Polizei sorgte mit Hundestaffel und Lichtwagen dafür, dass sich danach niemand mehr am »Dorfplatz« vor der Ex-»Liebig34« aufhalten mochte. Ihre Bilanz: 20 Festnahmen und sieben verletzte Polizist*innen.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1143797.berliner-polizei-ungeduscht-und-trotzdem-da.html?sstr=Liebig34
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1143373.liebig-kollektives-trauma.html?sstr=Liebig34