nd-aktuell.de / 03.11.2020 / Kommentare / Seite 8

Schluss mit dem Dramamodus

Social Media gibt das Gefühl, unmittelbar etwas tun zu können - was aber nicht gut ist

Julia Schramm

Soziale Medien leben von Drama. Ein Satz, ein Wort und die Dramamaschinerie fährt an. Alle sind empört, geschockt, können es nicht fassen, sind verletzt, wütend, glauben sich im Jahr zu irren, fühlen sich beleidigt, wollen am liebsten schreien und so weiter und so fort. Unermüdlich lassen wir uns von vereinzelten Nachrichten auf einem kleinen Bildschirm in den Dramamodus triggern und verlieren uns in einem reißenden Fluss aus ungeklärten Emotionen, der keine Abnutzungseffekte zeigt außer bei uns selbst, unserer Gefühlswelt und unseren Beziehungen.

Jetzt ist es zweifelsohne so, dass die Welt ein äußerst ungerechter Ort ist. Menschen werden täglich entwürdigt und ermordet, Kriege dominieren unsere Welt, und eine kleine Minderheit lebt in Saus und Braus, während die Mehrheit die Drecksarbeit verrichtet. Gleichzeitig werden Menschen, die vom weißen hetero Cis-Dude abweichen, unterdrückt, diskriminiert und fertiggemacht, sogar ermordet.

Kampf gegen Ungerechtigkeit braucht außerdem einen Moment der Wut, der Empörung und der Betroffenheit. Wut ist zentral für den Kampf um Gerechtigkeit, sie ist der emotionale Katalysator, die Angst vor Repression überwinden zu können. Aber Wut ist kein Drama. Ungerechtigkeit ist kein Drama. Kampf für eine bessere Welt ist auch kein Drama. Aber die Debatten, die wir, vor allem in den Sozialen Medien, führen, sind in erster Linie das: Drama. Viele nehmen alles als persönliche Beleidigung wahr, suhlen sich im Drama, im Schmerz. Manchmal geht das so weit, dass sich langjährige Freund*innen komplett öffentlich zerlegen, wegen eines falsch gesetzten Kommas. Dabei wäre die Situation nüchtern anzunehmen, sich zu organisieren und aus einem Zustand der Ruhe und Wachsamkeit heraus etwas zu verändern, das vielversprechende Herangehen. Warum tun wir das nicht?

Ursprünglich kommt Drama aus der Literatur und dem Theater und meint das Darstellen von Emotionen und die Zurschaustellung eines nicht unmittelbar zu lösenden Konflikts. Viele politische Konflikte unserer Zeit sind nun so komplex, dass sie gar nicht mehr wirklich verstehbar, geschweige denn unmittelbar lösbar sind. Unsere Welt ist weitestgehend globalisiert und mit ihr unsere Probleme. Bei Marx heißt das Entfremdung, praktisch heißt es, dass alle gesellschaftlichen Probleme eine globale Dimension haben. Nehmen wir den Kampf gegen den Klimawandel: Es müsste sofort gehandelt werden, aber verschiedene Interessen von Staaten und Unternehmen und die Trägheit vieler Demokratien stehen dem im Weg. Die soziale Demokratie wiederum ist eine hart erkämpfte Institution, die sich nicht einfach aushebeln lässt. Es ist also kompliziert. Und frustrierend.

Social Media gibt uns dagegen das Gefühl, unmittelbar etwas tun zu können. Ist ein Post gegen das faktische Abtreibungsverbot in Polen ein Akt des Widerstands? Ein einzelner Post von einem anonymen Account vielleicht nicht, aber viele Posts von vielen Accounts können Druck aufbauen und etwas verändern. Manchmal ist es tatsächlich ein kleiner Account, der die Lawine lostritt. Wir leben also in einem Universum des »Könnte«, das im neoliberalen Zeitalter zum »Sollte« wird. Wir alle könnten jederzeit die neue Greta werden. Also warum werden wir es nicht? Aus Option wird Druck, aus Möglichkeiten Frust. Drama in den Sozialen Medien ist also oft eine Ersatzhandlung für politische Handlungsohnmacht und die eigene Angst vor Bedeutungslosigkeit.

Der Anreiz ist sogar physiologisch, denn Drama setzt heroinähnliche Stoffe im Gehirn frei, wirkt also wie eine Droge. Soziale Medien sind so gesehen die Dealer, die Empörung der Stoff, den wir uns in die Synapsen knallen. Was also tun? Die Welt und ihre Ungerechtigkeiten lassen sich nicht so wie Drogen einfach meiden – aber wir müssen anfangen, Drama von Engagement zu unterscheiden. Das fängt bei uns an: Die schnippische Antwort online verkneifen, eine Runde um den Block gehen, daran denken, dass auf der anderen Seite auch ein Mensch sitzt. Nicht alles persönlich nehmen klingt brutal, aber ist die Wahrheit. Und vor allem: Erkennen, wenn man im Dramamodus ist. Denn im Dramamodus lässt sich kein Klassenkampf führen.

Julia Schramm ist Autorin und Politikerin in der Linkspartei.