nd-aktuell.de / 10.11.2020 / Brandenburg / Seite 11

Nicht immun gegen die Grippe

Ein Selbstversuch im Herbst 2020, sich in Potsdam impfen zu lassen

Wilfried Neisse, Potsdam

Im Frühjahr wurde ich 60 Jahre alt, mitten im ersten Corona-Lockdown. Unter dem Aspekt der Grippeschutzimpfung bin ich damit in einer neuen Kategorie von Bürgern. Erstmals in meinem Leben gehöre ich einer Bevölkerungsgruppe an, für welche die Ständige Impfkommission der Bundesrepublik ausdrücklich die Grippeschutzimpfung empfiehlt. Menschen, die 60 Jahre und älter sind sollen sich impfen lassen, außerdem Patienten mit Herz-Kreislauf-Problemen oder chronischen Atemwegserkrankungen sowie Schwangere, medizinisches Personal und Beschäftigte in Berufen mit viel Publikumsverkehr.

Als gutwilliger Staatsbürger möchte ich mich daran halten. Bis 59 bin ich nicht zur Impfung gegangen, nun aber will ich es tun. Spritzen haben mich schon als Kind nicht halb so sehr geängstigt wie der Bohrer der Zahnärztin. Ich rufe also Mitte Oktober bei meiner Hausärztin an, um einen Termin zu erhalten. »Ja, kommen Sie heute Nachmittag vorbei. Oder, nein, da sind wir unterbesetzt. Kommen Sie bitte morgen«, wird mir bedeutet.

Am nächsten Vormittag stehe ich vor der Schwester am Empfang. »Sind Sie Privatpatient oder Kassenpatient?« Das soll ich zunächst sagen. Nachdem das geklärt ist, wird mir beschieden, eine Impfung sei nicht möglich, weil kein Impfstoff vorhanden sei. In diesem Herbst, wird mir vorwurfsvoll erklärt, ließen sich alle möglichen Leute impfen, die das früher nicht taten. Aber warum soll ich mir diese Jacke anziehen? Ich weise darauf hin, dass ich erst jetzt komme, wo ich 60 Jahre alt bin. Wann werde denn wieder Impfstoff da sein? Einen Zeithorizont kann man mir nicht nennen. »Gehen Sie zur Apotheke, die wird es Ihnen bestätigen.«

Ich suche also die Apotheke auf. Ja, es sei kein Impfstoff vorhanden, wird mir dort tatsächlich erläutert. Die unerwartet hohe Nachfrage habe dafür gesorgt, dass alles aufgebraucht sei, was bestellt wurde. Man habe zwar nachbestellt, aber so ein Impfstoff werde nicht so problemlos produziert wie etwa eine Tablette. »Rufen Sie Herrn Spahn an«, bekomme ich zu hören.

Was Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit dem Versorgungsengpass zu tun hat? Er hatte sich am 14. Oktober demonstrativ eine Grippeschutzimpfung geben lassen, obwohl er erst 40 Jahre alt ist. Spahn wollte Vorbild sein, damit sich möglichst viele Bürger aus den Risikogruppen gegen die Grippe schützen. Der Gedanke dabei: Die Krankenhäuser sind mit der Behandlung von Corona-Patienten schon genug belastet. Dazu soll nicht noch eine große Zahl schwerer Grippefälle kommen. »Gleichzeitig eine größere Grippewelle und die Pandemie kann das Gesundheitssystem nur schwer verkraften«, mahnte Spahn. Er bat diejenigen, denen die Grippeimpfung empfohlen ist: »Lassen Sie sich impfen! Schützen Sie sich, schützen Sie andere und schützen Sie unser Gesundheitssystem.« Dazu verkündete Spahns Ministerium, die Bundesregierung habe zusätzlichen Impfstoff besorgt. Mehr als 26 Millionen Impfdosen seien für die Saison 2020/21 in Deutschland verfügbar. In der vergangenen Saison seien nur 14 Millionen Dosen verwendet worden.

Spahns Ratschlag scheint jedoch bei der Bevölkerung quasi zu ernst genommen worden zu sein. Sechs Tage später berichtete Christian Wehry, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg (KVBB), dass sich mehr Einwohner des Bundeslandes impfen lassen wollen. Ärzte berichteten Wehry zufolge von einem »deutlich höheren« Interesse. Man gehe davon aus, dass es ausreichend Impfstoff gibt, hieß es da noch. Anfang November werde die nächste Charge freigegeben und verteilt.

Doch die Deutsche Stiftung Patientenschutz hatte da schon kritisiert, Gesundheitsminister Spahn habe ein Chaos verursacht. »Seit Jahrzehnten war geübte Praxis, dass sich zunächst nur die Menschen der Risikogruppe oder mit speziellen Berufen impfen lassen sollten«, erklärte Vorstand Eugen Brysch. Spahn und andere Gesundheitsminister in den Ländern hätten jedoch wochenlang »die Grippeimpfung für jedermann« propagiert. »Diese Strategie war ein schwerer Fehler«, rügte Brysch. Von vielen Seiten sei nun von knappen Ressourcen zu hören. Das solle sich zwar bis Dezember wieder entspannen. »Das Chaos ist jedoch angerichtet«, rügte Brysch.

Mittlerweile habe ich die Auskunft erhalten: »Kommen Sie Mitte November wieder.« Als beste Zeit für die Impfung werden die Monate Oktober und November genannt.

Eine Nachfrage bei der KVBB ergibt, dass dort keine aktuellen Zahlen vorliegen. Jüngst seien aber, wie angekündigt vom Paul-Ehrlich-Institut, weitere Chargen des Grippeimpfstoffs freigegeben worden, informiert Sprecher Wehry am Montag. »In dieser und der kommenden Woche sollen die Chargen in den Praxen ankommen, und es sollte also auch dort wieder Impfstoff verfügbar sein, wo vielleicht gerade ein Mangel herrscht.«

Wehry erläutert, es brauche in der Regel zehn bis vierzehn Tage, bis der Impfschutz aufgebaut wird. »Daher ist auch im Dezember eine Grippeimpfung noch sinnvoll. Die Grippesaison beginnt meist frühestens Ende Dezember, eher Anfang des Jahres und läuft bis zum Frühlingsanfang.« Man könne sich somit auch in den kommenden Wochen noch für die nächsten Monate schützen lassen.