nd-aktuell.de / 10.11.2020 / Kommentare / Seite 15

Schiller würde Maske tragen

Aus der Schiller-Rede des Virologen Christian Drosten über Freiheit und soziale Verantwortung in der Pandemie

(…) In der Mehrzahl von Schillers Werken geht es darum, wie Freiheit erkämpft, gesichert und beschützt, aber auch wieder verlorengehen kann. Schiller ist ein überzeugter Kämpfer für die Freiheit, sein Anliegen ist es, das Freiheitsvermögen und Freiheitsbewusstsein des einzelnen Menschen und der Gesellschaft insgesamt zu stärken. Dabei bezeichnet sich Schiller selbst als »Weltbürger, der keinem Fürsten dient«.

Aus dieser Perspektive betrachtet, ist mir Schiller durchaus vertraut. Auch als Forscher und Wissenschaftler will ich frei und unabhängig arbeiten können, und alles andere wäre für mich mit den Grundvoraussetzungen für wissenschaftliche Forschung auch nicht vereinbar. Wissenschaftliche Erkenntnis darf nicht davon abhängig sein, wer sie zutage fördert, in Auftrag gibt, oder sogar am Ende bezahlt. Sie gilt universell und steht jedem zur Verfügung. Damit ist also auch der Forscher eine Art Weltbürger im Schillerschen Sinne, der keinem Fürsten, sondern nur der Erkenntnis dient.

Es sind vor allem drei Dimensionen dieser Freiheit, die mir besonders wichtig sind: Es ist zunächst die Freiheit der Wissenschaft selbst. Ich bin Virologe mit Spezialisierung auf Coronaviren, und dieses Thema habe ich mir selbst ausgesucht. Ich fand Viren schon immer faszinierend, aber diese Viren reizen mich seit vielen Jahre ganz besonders. Wie sind sie aufgebaut, wo kommen sie her, wie werden sie übertragen, wie schnell verbreiten sie sich und wie verändern sie sich dabei. Diesen Fragestellungen gehe ich aus eigenem Antrieb mit hoher Motivation seit vielen Jahren nach. Niemand gibt mir dabei eine Richtung vor oder verlangt, dass ich gewissen Fragestellungen oder Themen vielleicht eher nicht nachgehen sollte.

Friedrich Schiller musste sich diese Freiheit hart erkämpfen. Was er zu Papier brachte, fand nicht überall Anklang. Es gab Landesherren, die mit seinen Ansichten nicht einverstanden waren. Er war mit Schreibverbot bedroht und zur Flucht gezwungen. Meine Liebe zur Freiheit des Wortes hat mich weniger hart getroffen. Im Gegenteil, sie wird honoriert und hat mich zuletzt an die Charité geführt.

Das zweite für mich wichtige Element der Freiheit betrifft die Methode, nach der ich wissenschaftliche Erkenntnisse gewinne. Dieser Prozess findet weltweit nach etablierten Regeln und denselben hohen Standards statt. Meine Freiheit besteht darin, dass niemand mich zwingen kann, von diesen Standards abzuweichen, etwa durch Vorgaben, wie ich Themen anzugehen, Experimente zu planen oder Studien auszuwerten habe. Die Regeln und Leitplanken wissenschaftlicher Forschung gelten universell. Ich bin ausschließlich den Fakten verpflichtet, dem wissenschaftlichen Experiment, den Beobachtungen und den Schlussfolgerungen. Was zählt, ist mein eigener Verstand, der kollegiale Austausch, das beständige Ringen um belastbaren Erkenntnisfortschritt. Dabei muss ich mich jederzeit der harten wissenschaftlichen Debatte über meine Arbeit stellen. Diese Art zu arbeiten macht mich als Forscher unabhängig von möglichen Erwartungen und Interessen Dritter.

Auch für den Aufklärer Friedrich Schiller - und da erkenne ich eine weitere Gemeinsamkeit - bedeutet Freiheit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er war ganz bestimmt niemand, der anderen nach dem Mund geredet hat oder Ideen Dritter einfach weitergegeben hätte. Er hat es als Auftrag verstanden, auf die Fragen, die ihn umtrieben, authentische eigenständige Antworten zu finden. Die Freiheit des Denkens war ihm lustvolle Herausforderung und Verpflichtung. Dafür war er persönlich sogar bereit, Härten hinzunehmen, zu fliehen und immer wieder von vorne anzufangen.

Schließlich und drittens genieße ich die Freiheit, meine Forschungsergebnisse ungehindert mit anderen teilen zu können. Diese Möglichkeit ist ein elementarer Bestandteil der Wissenschaft. Nur wenn Erkenntnisse geteilt, diskutiert und überprüft, im weiteren Prozess widerlegt oder weiterentwickelt werden, kommen wir in der Forschung voran.

Damit die Gesellschaft davon profitieren kann, ist es aber auch wichtig, dass wir Forscher unsere Ergebnisse verständlich und transparent kommunizieren. Dieser Aspekt ist für mich persönlich gerade in den letzten Monaten besonders wichtig gewesen. Und wird es absehbar auch bleiben. In der Pandemie sehe ich mich, wie viele andere Wissenschaftler, in der Pflicht, zu informieren und Orientierung zu geben. (...)

Gerade weil es auf unser persönliches Verhalten ankommt, brauchen wir verlässliche Informationen. Die Pandemie ist kein unabwendbares Schicksal. Wir selbst bestimmen durch unser Verhalten, ob sich die Lage verschlimmert oder verbessert. Jeder von uns leistet so oder so seinen persönlichen Beitrag. Daher ist die wissenschaftsbasierte Information der Öffentlichkeit für mich eine genauso wichtige Strategie im Kampf gegen das Virus wie die Entwicklung eines Medikaments oder eines Impfstoffs.

Damit sind wir beim zweiten zentralen Punkt angekommen, dem ich heute nachgehen will: der Frage nach der Freiheit im Zusammenhang stehenden Verantwortung. Was fangen wir mit all der Freiheit an, die wir so sehr schätzen? Was leiten wir daraus für den Umgang mit anderen Menschen und der Gesellschaft als Ganzes ab? Bei der Antwort auf diese Fragen scheint mir Schiller besondere Aktualität zu haben. Für ihn war klar, dass persönliche Freiheit nicht losgelöst von der Gesellschaft gelingen kann. Schiller war bereit, auch seinen Mitmenschen Freiheit zuzugestehen. Damit die Freiheit aller geschaffen und erhalten werden kann, ist es wiederum notwendig, dass die Menschen füreinander einstehen und Verantwortung füreinander übernehmen. Und so besser das klappt, desto weniger bedarf es auch Eingriffen von oben. In der Pandemie hat sich gezeigt, wie relevant dieser Grundsatz noch heute ist. Je mehr ich mich als Individuum aus freien Stücken verantwortlich verhalte, desto weniger Anlass gebe ich dem Staat, ins gesellschaftliche Leben einzugreifen. Je unbedachter und egoistischer ich aber handle, desto eher muss der Staat meine Freiheit beschränken, um das Gemeinwesen, wie auch das Wohlergehen der anderen Menschen wirksam zu schützen.

Was aber bedeutet verantwortliches Handeln? Reicht es, frei nach Schiller, aus, die Menschen auf ihre freie Entscheidung hinzuweisen, in der Pandemie nur aus Neigung und ohne äußeren Zwang das Richtige Vernünftige zu tun? Werden sie dann freiwillig mitmachen, oder brauchen wir, frei nach Immanuel Kant, einen eher strengen Hinweis auf Pflicht und Verantwortung, eine Art pandemischen Imperativ? Handle in einer Pandemie stets so, als seist du positiv getestet und dein Gegenüber gehöre einer Risikogruppe ein.

Ich verstehe meinen Auftrag als Wissenschaftler so, dass ich Menschen mit Informationen und Erkenntnissen in die Lage versetze, diese Frage für sich selbst entscheiden zu können. Meine Rolle und mein Beitrag bestehen darin, die Methoden meines Fachgebiets zu erklären, die Grenzen wissenschaftlicher Studien aufzuzeigen, einzuordnen, was Fakt und was Fiktion ist. Und natürlich fühle ich mich dazu verpflichtet, korrigierend einzugreifen und ausgemachten Unsinn auch einmal beim Namen zu nennen. Dabei muss ich die Sprache der Wissenschaft in anschauliche, aber immer noch stimmige Bilder und Analogien übersetzen, die jedem eingängig sind.

Wenn sie sich heute als Wissenschaftler auf dieses Experiment einlassen, sind sie sofort mittendrin im breiten öffentlichen Meinungskampf um die Coronavirus-Pandemie. Und das ist für jemanden, dem es um Fakten und gesicherte Erkenntnis geht, eine, sagen wir mal, interessante und lehrreiche Erfahrung. Sie stellen zum Beispiel fest, dass ihre Beiträge Teil einer ungemein hart geführten Debatte werden. Wissenschaftliche Ergebnisse werden hier nicht sachlich und kühl im Kreis der Fachwelt seziert, sie werden im Hinblick auf ihre politischen, sozialen und persönlichen Auswirkungen diskutiert und mit hoher Emotionalität bewertet. Das Ganze findet rund um die Uhr bei hohen Temperaturen im Schleuderwaschgang der sozialen Medien statt.

Unter diesen sehr speziellen Voraussetzungen ist es besonders wichtig, als Wissenschaftler authentisch, also bei sich und erlerntem methodischem Rüstzeug zu bleiben und keinem Fürsten zu dienen. Ich bin Virologe und Wissenschaftler, ich bin kein Politiker. Keine Wahl hat mich dazu legitimiert, politische Entscheidungen zu treffen. Ich kommuniziere die Fakten und helfe dabei, sie einzuordnen, nicht mehr und nicht weniger. Im Hinblick auf das Coronavirus habe ich als Wissenschaftler damit zwangsläufig den Job, unangenehme Wahrheiten zu kommunizieren. Das Virus kann nicht wegretuschiert werden, es ist einfach da. Es wartet auf seine Gelegenheit und es wird sie nutzen, wenn wir nicht dazwischenschlagen. Es verhandelt nicht, es geht keine Kompromisse ein.

Aufgabe von uns Virologen ist es, dieser von wissenschaftlichen Erkenntnissen getragenen Wahrheit der Öffentlichkeit immer wieder Gehör zu verschaffen. Es liegt nun einmal in der Verantwortung des Wissenschaftlers, ein realistisches Bild zu zeichnen und nicht das gewünschte. Gleichzeitig weisen die von uns aufgezeigten Erkenntnisse auch den Weg, wie wir mit diesem kompromisslosen Gegner fertig werden. Und dieser Weg ist gangbar. Wir müsse im Sinne Schillers Verantwortung für uns und andere übernehmen. Das heißt konkret, dass wir Abstandsregeln einhalten und unsere Mobilität und Kontakte möglichst einschränken. Das ist für alle von uns hart und ruft daher nahezu zwangsläufig auch Widerstand hervor.

Damit umzugehen, ist nicht immer einfach. Der natürliche Reflex wäre es, sich wegzuducken. Genau das dürfen wir Wissenschaftler aber nicht machen. Auch hier kann Schiller uns als Beispiel dienen. Wir müssen unseren Überzeugungen treu bleiben und dürfen nicht klein beigeben. Es ist nicht zuletzt unsere Freiheit als Wissenschaftler, aus der die Pflicht erwächst, diesem Auftrag nachzukommen. Und es ist bemerkenswert, dass immer mehr Forscher genau das tun. Sie bringen sich ein und übernehmen in dieser gesellschaftlich und politisch schwierigen Lage Verantwortung. Ich bin froh, dass viele Virologen, Epidemiologen, Kliniker und Psychologen einen wertvollen Beitrag leisten, die Auseinandersetzung zu versachlichen, die Qualität der Debatte zu steigern und den jeweiligen Stand der voranschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis einzuordnen. (...)

Ursprüngliche Theorien und Annahmen können sich als falsch erweisen, gleichzeitig wichtige neue Impulse liefern. Für Menschen, die dies nicht gewohnt sind, ist das mitunter schwer nachzuvollziehen, insbesondere, wenn sie sich wie jetzt in der Pandemie valide Informationen erhoffen, aus denen sie ihr Handeln ausrichten können. Gerade für politische Entscheider ist unser wissenschaftliches Treiben eine regelrechte Zumutung. Das politische Handeln folgt nämlich einer grundlegend anderen Logik. Es ist darauf ausgerichtet, möglichst langfristig tragende Rahmenbedingungen zu schaffen. Kurskorrekturen werden vom politischen Gegner jeweils als Zeichen des Scheiterns eines Politikansatzes gebrandmarkt. Und das war leider auch bei der Pandemie-Bekämpfung der Fall.

Dass politische Entscheider die Maßnahmen aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse immer wieder nachbessern oder korrigieren mussten - denken Sie nur an den Mund-Nasen-Schutz - fand nicht überall ein positives Echo. Dabei waren solche Kurskorrekturen absehbar und naheliegend. Dass die Politik diese vollzogen hat, spricht auch klar für und nicht gegen sie. Schließlich fußten deren Maßnahmen auf den jeweils neuen Erkenntnissen, die von der Forschung über das Virus zutage gefördert wurden. (…)

Nicht alle diese Erkenntnisse hätte man von Anfang an so erwartet. Einige wurden und werden weiterhin bezweifelt, durch fortlaufende Studien auch immer wieder auf die Probe gestellt. Gibt es etwas Neues, muss man seine Bewertung auch daran anpassen. So geht Wissenschaft nun einmal. Und genau diesen Erkenntnisprozess müssen wir, die verantwortlichen Wissenschaftler, Politik und Gesellschaft aktiv erklären, wenn wir wollen, dass sie uns Vertrauen und Unterstützung schenken. (...)

Gerade als Wissenschaftler haben wir hier eine gesellschaftlich wichtige Funktion, in der uns niemand ersetzen kann. Das bedeutet explizit auch, unsere Erkenntnisse in die laufende öffentliche Debatte einzubringen und sie klar in der Sache und ohne Parteinahme zu vertreten. Gleichzeitig dürfen wir nicht zusehen, wenn Fakten ignoriert, verdreht oder auch verkürzt werden. Wenn Wissenschaft politisiert, instrumentalisiert oder in ihren Standards verletzt wird, müssen wir mit nachweisbaren Fakten Stellung beziehen. (…) Für die freie Wissenschaft ergibt sich also eine verantwortungsvolle Kommunikation als eine gesellschaftliche Verpflichtung. Es ist die Pflicht, aus der die Freiheit erwächst, an die uns heute Friedrich Schiller an seinem Geburtstag erinnert.

Lassen Sie mich noch einmal auf Friedrich Schiller zurückkommen. Es geht darum, wie wir unsere Stimme erheben und in welcher Haltung wir unseren Beitrag leisten. Das ist nicht ganz unwichtig, weil ja der Ton oft die Musik macht. In den »Xenien« wendet sich Schiller in einer Art Spottgedicht gegen die rigorose moralische Strenge und die Überhöhung des Pflichtgedankens eines Immanuel Kant. Es heißt: »Gern dient’ ich den Freunden, doch tu ich’s leider mit Neigung. Und es wurmt mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin. Da ist kein anderer Rat: Du musst suchen, sie zu verachten, und mit Abscheu alsdann tun, was die Pflicht dir gebeut.« Ich deute die etwas verzwickten Verse so: Jeder von uns ist aufgefordert, nicht nur aus Pflicht und Verantwortung zu handeln. Die Neigung und die Lust gehören untrennbar dazu. Und auch wenn Kant uns mahnt, der Mensch solle seiner Vernunft nicht allein aus Freude gehorchen, er darf es doch durchaus. Die Freude an der Erkenntnis darf also auch in der jetzigen Situation unser verantwortungsvolles Handeln antreiben. Von daher bin ich mir recht sicher, auch Schiller würde Maske tragen.