nd-aktuell.de / 11.11.2020 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 15

Wenn’s nicht mehr für die Rate reicht

Laut dem Schuldneratlas droht wegen der Coronakrise eine Zunahme von Überschuldungsfällen

Simon Poelchau

Corona spaltet. Während Milliardär*innen und Superreiche in der Krise häufig noch reicher werden und die Sparkassen pünktlich zum Weltspartag Ende November jubelten, dass hierzulande wegen der Pandemie mehr gespart wird, sieht es am unteren Ende der Einkommensleiter düster aus. »Die langfristigen Perspektiven für die Überschuldungsentwicklung sind besorgniserregend, da die Corona-Pandemie auch eine weitere Polarisierung von Einkommen und Vermögen bewirkt«, warnt der Ökonom Ludwig Hantzsch von der Wirtschaftsauskunftei Creditreform.

Am Mittwoch veröffentlichte Creditreform ihren diesjährigen Schuldneratlas. Darin gibt sie detailliert an, wie viele Personen hierzulande überschuldet sind. Dabei wird meist zwischen »harter« und »weicher« Überschuldung unterschieden. Bei einem »harten« Fall führte die finanzielle Notlage der betroffenen Person schon zu juristischen Konsequenzen bis hin zu einer Privatinsolvenz. Bei einer »weichen« Überschuldung häufen sich aufgrund der klammen Situation die nicht bezahlten Mahnungen, weil etwa die Miete nicht mehr gezahlt werden kann.

Laut dem Schuldneratlas ging die Zahl der Überschuldeten dieses Jahr um 69 000 Personen auf 6,85 Millionen noch etwas zurück. Damit kommt knapp jeder zehnte Erwachsene (9,87 Prozent) nicht mit seinen finanziellen Verpflichtungen zurecht. Doch ist diese Entwicklung laut Hantzsch »kein Zeichen der Entspannung«, da die Corona-Pandemie und die von der Politik beschlossenen Schutzmaßnahmen die Wirtschaft in eine tiefe Rezession geschickt haben. Die Folge ist, dass 700 000 Menschen zwischenzeitlich den Arbeitsplatz verloren hatten, bis zu 7,3 Millionen in Kurzarbeit waren oder sind, und viele Menschen mit geringem Einkommen können ihrer selbstständigen oder teilberuflichen Tätigkeit nicht nachgehen. Für viele von ihnen wird es in den nächsten Monaten deshalb schwerer werden, den Hauskredit oder die Leasingrate fürs Auto zu bedienen.

Folglich warnt auch Julian Merzbacher, Verbraucherschutzexperte bei der Initiative Finanzwende, vor dem wachsenden Problem der Überschuldung: »In der Coronakrise erleben viele, wie schnell man auch ohne Kaufrausch in finanzielle Turbulenzen geraten kann - ob am eigenen Leib oder im Bekanntenkreis.« Das Ersparte schmelze bei vielen Betroffenen dahin, so dass ein Anstieg der Überschuldung zu befürchten sei. »Die Politik sollte endlich eine überzeugende Antwort darauf geben, wie sie Überschuldung in den Griff bekommen will«, fordert deshalb Merzbacher. So entstehe eine »gefährliche Schieflage, wenn in der Coronakrise Milliarden in Unternehmensrettungen fließen, während Überschuldete vielfach allein zurückgelassen werden«.

So zeigt der Rückgang dieses Jahr laut Creditreform zwar, »dass die staatlichen Hilfsprogramme dazu beitragen, dass die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte auch in der akuten Krise insgesamt stabil geblieben sind«. Doch vollziehe sich die individuelle Überschuldungsentwicklung nicht sprunghaft, sondern zeitlich versetzt über mittlere Zeiträume. Hinzu kommt: »Ein Ende der gesundheitspolitischen und ökonomischen Krisenlage ist angesichts des ansteigenden Infektionsgeschehens nicht absehbar - die unmittelbaren und mittelbaren Folgewirkungen werden für Wirtschaft, Gesellschaft und Verbraucher gravierender sein als die der Weltfinanzkrise 2008 und 2009«, wie Hantzsch warnt.

Gleichzeitig ist auch nicht bei allen Bevölkerungsgruppen dieses Jahr die Überschuldungsrate zurückgegangen. Insbesondere ältere Personen geraten zunehmend in die Schuldenfalle. Im Vergleich zu vergangenem Jahr stieg die Zahl überschuldeter Verbraucher über 50 Jahre laut Creditreform um 246 000 auf rund 2,5 Millionen Personen deutlich an.

Laut dem Schuldneratlas laufen vor allem Menschen am unteren Ende der Einkommensleiter wegen Corona Gefahr, in die Schuldenfalle zu geraten. Während Gutverdiener Einkommensausfälle kompensieren und zum Teil sogar noch vermehrt sparen können, weil sie Konsumzurückhaltung üben, haben untere soziale Schichten keine oder nur sehr geringe finanzielle Reserven. Die Folge: Bereits jetzt deuten sich finanzielle Überlastungen an, die später zu einem Anstieg der Überschuldungsfälle führen werden.

So werden laut dem Bericht in der Corona-Pandemie die Schattenseiten des deutschen Niedriglohnsektors offenbar, der mit 7,33 Millionen Arbeitsplätzen einer der größten in Europa ist. Besonders prekär ist die Lage von Minijobbern. Rund drei Viertel von ihnen arbeiten zum Niedriglohn. Dabei haben sie keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld, weshalb sie auch nicht von der Aufstockung des Kurzarbeitergeldes und anderen sozialpolitischen Kompensationsmaßnahmen profitieren. Dadurch bricht derzeit insbesondere Haushalten im unteren Bereich der Einkommensverteilung ein erheblicher Teil ihres verfügbaren Einkommens weg.