Tragischer Frieden

Armenien zwischen Kapitulation, Kriegsgelüsten und Spuren der Verwüstung.

  • Philip Malzahn
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit dem 10. November ist offiziell wieder Frieden in Bergkarabach. Während Aserbaidschan die »Kapitulation Armeniens« bejubelt, gibt es massive Proteste in Armenien gegen die eigene Regierung. Die Opposition in Jerewan fordert den Rücktritt des Präsidenten Nikol Paschinjan, der im Zuge der armenischen Revolution 2018 unter anderem mit seiner rigiden Anti-Korruptions-Politik an die Macht gekommen war. Im Krieg um Bergkarabach, der mit einer aserbaidschanischen Offensive am 27. September begann, haben jedoch weder Aserbaidschan noch Armenien ihr Ziel erreicht: die alleinige Kontrolle und die jeweils angeführte »Befreiung« der umstrittenen Region.

Trotz massiver Gebietsverluste hätte es jedoch vor allem für Armenien viel schlimmer ausgehen können. Das unter russischer Vermittlung vereinbarte Friedensabkommen gewährt der armenischen Seite immerhin die Kontrolle über die größte Stadt in der Region, Stepanakert, sowie über den Lachin-Korridor, die wichtigste Versorgungsroute zwischen der armenischen Hauptstadt Jerewan und ihren Gebieten in Bergkarabach.

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Nur zwei Tage zuvor hatte es so ausgesehen, als würde Armenien den Krieg vollständig verlieren. Aserbaidschan hatte den strategisch wichtigen Gipfelort Schuscha erobert, damit gerieten sowohl Stepanakert wie auch der Lachin-Korridor unter Dauerbeschuss. Am vergangenen Wochenende machte sich deshalb in ganz Bergkarabach Panik breit. Alle zivilen Einrichtungen, das Zentralarchiv der international nicht anerkannten Republik Arzach mit über Zehntausend Videokassetten wie auch das größte Krankenhaus in Stepanakert wurden evakuiert. Die letzten Zivilisten, die bis dahin noch in den Schutzkellern ihrer Wohnhäuser geblieben waren, flohen. In der Folge gab es bis zu 15 Stunden Stau auf der kleinen und schlecht ausgebauten Straße nach Norden. »Wir haben gedacht, wir hätten alles verloren. Mindestens«, sagt die 69-jährige Alla. Wochenlang harrte sie mit ihren Nachbarn im Schutzbunker aus, bevor auch sie die Flucht ergriff.

Mittlerweile ist Alla wieder in Stepanakert angekommen. Doch obwohl der Friedensvertrag den Einsatz von rund 2000 russischen Soldaten für fünf Jahre garantiert, die über die Waffenruhe wachen sollen, und sie ihr Zuhause in der Hauptstadt Stepanakert behalten kann, ist der Ausgang des Krieges für diese Frau eine Tragödie. Und nicht nur für sie, »für viele ist es eine Tragödie«, sagt Alla am Telefon.

Was sie damit meint, lässt sich laut dem armenischen Politikwissenschaftler Alexander Iskandaryan auf zwei Eben erklären: Emotionen und Zahlen. »Die emotionale Ebene war sehr gut auf den Straßen Jerewans in den Stunden nach Verkündung des Abkommens zu sehen«, sagt Iskandaryan. »Denn die meisten Demonstranten waren in keiner Form organisiert. Es waren Mütter, die ihre Söhne an der Front haben, und junge sowie alte Männer, die öfters und wiederholt ihr Leben für Bergkarabach riskiert haben.« Dass die Opposition versuchen würde, die Stimmung zu ihren Gunsten zu kanalisieren, wäre nachvollziehbar. »Doch auch ihnen fehlt es an einem konkreten Fahrplan, den Krieg in Bergkarabach zu gewinnen«, sagt Iskandaryan. Selbst ohne Präsident Paschinjan wäre die Ausgangslage dieselbe: Russland und Türkei würden dieselben Positionen vertreten, und die aserbaidschanische Armee wäre mit türkischer Unterstützung weiterhin überlegen. Deshalb mache das Abkommen auf politischer Ebene natürlich Sinn, so Iskandaryan. »Es ist ein Instrument, die Gewalt kurzfristig zu beenden. Das ist gut.« Trotzdem biete die Einigung keinerlei rechtliche Basis, den Konflikt dauerhaft zu lösen.

Das wissen alle Armenier, und deshalb bedeuten die nackten Zahlen, die nach dem Krieg das Ausmaß des Verlustes beziffern, für die Bevölkerung nichts anderes als eine herbe Niederlage. Die im Zuge des Bergkarabach-Konflikts Anfang der 90er Jahre ausgerufene Republik Arzach - eine ehemals selbstständige Verwaltungszone der Sozialistischen Sowjetrepublik Aserbaidschan - bleibe weiterhin ohne internationale Anerkennung. Mehr noch: Sie werde laut Iskandaryan faktisch von etwa 12 000 Quadratkilometer auf circa 2500 Quadratkilometer schrumpfen. Viele wichtige kulturelle Zentren wie Kirchen und Museen seien nun unter aserbaidschanischer Kontrolle. Und die bevölkerungsreichsten Regionen Karabachs im Süden seien nun wie leergefegt. Vor dem Krieg lebten etwa 150 000 Menschen in der Republik Arzach, inzwischen seien bis zu 100 000 Menschen geflohen. Genaue Zahlen werde es erst in kommenden Wochen geben, sagt Alexander Iskandaryan. »Doch schon jetzt ist klar: Was von der Republik Arzach übrigbleibt, ist eine Art armenisches Reservat, kontrolliert durch Russland.« Ein Großteil der Menschen wird nicht zurückkehren können, da ihre Ortschaften nun unter aserbaidschanischer Kontrolle stehen.

Der Konflikt um die Region Bergkarabach hat seine Ursprünge im frühen 20. Jahrhundert. Sowohl Aserbaidschan als auch Armenien erheben Anspruch auf das gesamte Gebiet, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Traditionell wurde Bergkarabach von Gruppen beider Ethnien bewohnt. Vor dem ersten Bergkarabach-Konflikt 1988 bis 1994 waren es etwa circa zwei Drittel Armenier und ein Drittel Aserbaidschaner. Doch im Laufe des Konflikts wurden auf beiden Seiten - also Armenier aus Aserbaidschan und andersrum - über eine Million Menschen vertrieben. Vor Ausbruch des Krieges im September 2020 lebten in Bergkarabach über 99 Prozent Armenier.

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