»Abiy bleibt nicht mehr viel Zeit«

Annette Weber über den Konflikt in Äthiopien und die Notwendigkeit für den Premier, Versöhnung zu stiften

  • Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 5 Min.

Frau Weber, was hat den Krieg zwischen der Regierung in Addis Abeba und der abtrünnigen Region Tigray ausgelöst?

Als Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed im März ankündigte, die für Mai geplanten landesweiten Parlamentswahlen auf Grund der Coronakrise auf unbestimmte Zeit zu verschieben, beschloss die Regionalregierung in Tigray, auf eigene Faust Regionalwahlen durchzuführen. Denn Abiy wurde im April 2018 ernannt, er wurde bislang jedoch nie in einer Wahl bestätigt. Die Partei »Volksbefreiungsfront von Tigray«, kurz TPLF, holte im September in Tigray mehr als 90 Prozent der Stimmen. Doch die Regierung in Addis Abeba erkannte die Wahl nicht an. Beide Seiten haben die Situation seitdem verbal eskalieren lassen. Anfang November hat die TPFL dann einen Stützpunkt der äthiopischen Regierung angegriffen. Oder die äthiopische Armee fühlte sich angegriffen. Genau lässt sich das nicht überprüfen. Die Regierung in Addis Abeba reagierte mit dem Einsatz von Luft- und Bodentruppen.

Annette Weber

ist die Äthiopien-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Über Ursachen und Folgen des Bürgerkrieges in Äthiopien und darüber, wie es Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed noch gelingen kann, das zweitbevölkerungsreichste Land Afrikas vor dem Flächenbrand zu bewahren, sprach mit ihr für »nd« Philipp Hedemann.

Woher kommt der Hass zwischen Tigray und Addis Abeba?

Äthiopien ist auf ethnischer Grundlage in neun Regionen eingeteilt. Auch weil das Selbstbestimmungsrecht der Ethnien über 25 Jahre unterdrückt wurde, spielt die Ethnisierung eine zunehmende und sehr schwierige Rolle. Jede Woche kommt es in Äthiopien zu ethnisch motivierten Morden und Massakern. Fast alle Ethnien in Äthiopien stellen das Wohl ihrer eigenen Gruppe über das nationale Wohl.

Abiy wollte das überwinden. Als er vor zwei Jahren ins Amt kam, fühlten sich viele der alten Kader der TPFL gedemütigt. Sie hatten beim Sturz des kommunistischen Diktators Mengistu 1991 eine wesentliche Rolle gespielt und hatten deshalb seitdem einen überproportionalen politischen und wirtschaftlichen Einfluss. Diesen Einfluss hat Abiy zurückgedreht. Die TPFL hat das nie akzeptieren wollen.

Die jetzige militärische Eskalation ist deshalb auch ein »revenge war«, ein Krieg aus Rache. Mehr Autonomie oder eine Sezession - bislang ist nicht klar, was die TPFL überhaupt erreichen will. Ihr scheint es zunächst vor allem um die Diskreditierung Abiys zu gehen. Sie will sein messianisches, friedensliberales Image zerstören und zeigen, dass er nicht in der Lage ist, Äthiopien zusammenzuhalten.

Trägt also Tigray die Schuld am Krieg?

Nein, die Schuld tragen beide Seiten! Sowohl Addis Abeba als auch Tigray haben den Krieg mit einer extrem hasserfüllten Sprache, die nur die Zerstörung des anderen im Blick hat, heraufbeschworen. Beide Seiten waren an einer Deeskalation nicht interessiert.

Aber birgt die militärische Eskalation für Abiy nicht mehr Gefahren als Chancen?

Er geht offensichtlich davon aus, dass der Krieg zu einer nationalen Stabilisierung beitragen kann. Nachdem sie ganz Äthiopien über 25 Jahre dominiert hat, ist die TPLF in großen Teilen der Bevölkerung extrem unbeliebt. Abiy wähnt deshalb die meisten Äthiopier hinter sich. Er geht wohl davon aus, dass viele Äthiopier befürchten, dass die Vorherrschaft der TPFL nie gebrochen werden kann, wenn sie nicht auch militärisch geschlagen wird.

Wird der Friedensnobelpreisträger den Konflikt denn militärisch für sich entscheiden können?

Das ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu beantworten. Die TPFL soll in der Lage sein, in kurzer Zeit 250 000 Kämpfer zu mobilisieren. Das sind mehr Soldaten, als der Rest der äthiopischen Armee zur Verfügung hat. Die Soldaten der TPLF sind kampferfahren, gut ausgerüstet und ausgebildet, hoch motiviert und kennen sich im gebirgigen Tigray bestens aus. Anderseits verfügt Addis Abeba über die Luftwaffe. Nach nicht bestätigten Berichten setzt Addis Abeba auch hochmoderne Kampfdrohnen der verbündeten Vereinigten Arabischen Emirate ein.

Zudem kann Addis Abeba binnen kürzester Zeit viele mittellose junge Männer für den Krieg im Norden mobilisieren. Außerdem könnte es der äthiopischen Armee gelingen, die Nachschubwege für die Kämpfer aus Tigray zu unterbrechen. Aber selbst, wenn es die äthiopische Armee schaffen sollte, die TPFL aus den Städten zu vertreiben, kann die TPLF aus dem Untergrund oder aus dem Ausland in einen langen und zermürbenden Guerilla-Krieg verwickeln.

Ein Krieg mit vielen Opfern?

Davon ist leider auszugehen. Weil keine Journalisten und unabhängige Beobachter ins Kriegsgebiet kommen und Telefon- und Internetverbindungen gekappt wurden, gibt es derzeit keine verlässlichen Zahlen zu Opfern und Kriegsverlauf. Zwischen 1998 und 2000 haben Äthiopien und Eritrea in der Region einen Krieg mit bis zu 100 000 Todesopfern geführt. Die Soldaten wurden wie Lämmer in die Schlachtfelder getrieben. Es ist leider nicht davon auszugehen, dass sich die Militärtaktik seitdem wesentlich geändert hat.

Wird der Bürgerkrieg sich auf ganz Äthiopien ausweiten oder wird Abiy den Rest des Landes hinter sich bringen können, um den Krieg gegen Tigray zu führen?

Beide Szenarien sind denkbar. Im Worst-Case-Szenario versinkt ganz Äthiopien im Bürgerkrieg. Dann gibt es viele Tausend Tote. Auch die Nachbarländer Sudan, Eritrea und Somalia könnten weiter destabilisiert werden.

Wird der Krieg eine Flüchtlingswelle auslösen?

Schon jetzt sind in Äthiopien aufgrund ethnischer Konflikte drei Millionen Menschen auf der Flucht. Die Vereinten Nationen befürchten, dass durch den Krieg in Tigray bis zu neun Millionen weitere Menschen vertrieben werden könnten.

Wird Abiy die bislang größte Krise seiner Amtszeit überstehen?

Sowohl sein physisches als auch sein politisches Überleben sind gefährdet. Es wäre nicht der erste Anschlagsversuch auf Abiy, und die Gefahr ist durch den Krieg weiter gestiegen. Aber selbst, wenn er überlebt und den Krieg militärisch für sich entscheiden kann, ist sein politisches Überleben nicht gesichert. Dazu muss es ihm sehr schnell gelingen, einen echten und weitreichenden nationalen Versöhnungsdialog einzuleiten. Er ist zuletzt vom Weg der Versöhnung abgeraten. Aber wie gesagt: Es ist nicht zu spät, um auf diesen Weg zurückzukehren. Doch dafür bleibt Abiy nicht mehr viel Zeit.

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