nd-aktuell.de / 24.11.2020 / Kultur / Seite 12

Sozialdrama von rechts

Der Netflix-Film »Hillbilly Elegy« setzt das Thema Klassenzugehörigkeit in den USA aufschlussreich in Szene

Florian Schmid

Wissen Sie, was ein Hillbilly ist? Gehört hat den Begriff jeder schon mal, aber ihn genau zuzuordnen, ist gar nicht so einfach. Der »Hügel-Willi«, auf Deutsch übersetzt, ist in den USA ein abwertender Begriff wie hier der »Hinterwäldler« und bezeichnet vor allem die weißen Bewohner im ländlichen und gebirgigen Teil Kentuckys. Vor vier Jahren, als Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt wurde, kam das autobiografische Sachbuch »Hillbilly Elegie« von J. D. Vance heraus. Darin beschreibt der 1984 geborene heutige Investmentbanker, wie er aus dem sozial randständigen Amerika des sogenannten White Trash über den Militärdienst im Marine Corps und ein Stipendium an der Eliteuniversität Yale in die Oberschicht aufgestiegen ist. Vances Schilderung des Milieus, aus dem er stammt, wurde im Wahljahr 2016 von den US-amerikanischen Feuilletons gefeiert, weil hier von jenen Menschen erzählt werde, die Trump ins Weiße Haus gebracht hätten und denen man vermeintlich zu lange nicht zugehört hatte. Nun hat Hollywood-Erfolgsregisseur Ron Howard (der unter anderem für »Apollo 13«, »A Beautiful Mind« und »Solo: A Star Wars Story« verantwortlich zeichnet) für Netflix das in den USA äußerst umstrittene Buch des bekennenden Republikaners J. D. Vance verfilmt, hochkarätig besetzt mit Amy Adams und Glenn Close.

»Hillbilly Elegy« erzählt die Geschichte eines übergewichtigen Jungen, der in einer heruntergekommenen Kleinstadt voll verrammelter Läden in der Haupteinkaufsstraße in Ohio, im Rust Belt, aufwächst und dessen Familie, die er mit Mutter, Schwester und Oma jeden Sommer besucht, ursprünglich aus der titelgebenden Hillbilly-Gegend Kentuckys kommt. Seine alleinerziehende Mutter arbeitet als Krankenschwester und ist drogenabhängig. Die Großmutter wohnt zwei Häuser weiter, getrennt vom Großvater, der ebenfalls in derselben Straße wohnt. In der Familie ist Streit und Gewalt allgegenwärtig. Die Mutter, die in der Auseinandersetzung mit dem Sohn ausrastet und mit ihm im Auto auch mal mit hundert Sachen durch die Ortschaft rast, schlägt dann ihren Sprössling so lange, bis eine Nachbarin die Polizei holt. Die schon vor Jahrzehnten aus Kentucky ins damals industrialisierte Ohio ausgewanderte Großmutter wurde früher von ihrem ebenfalls aus der Pampa stammenden Mann geschlagen, bis sie ihn irgendwann in seinem Urin auf dem Sofa liegend anzündete. Der Junge wiederum randaliert mit Freunden nachts im Baumarkt, und sobald er einen Blick aus dem Haus die Straße hinunter wirft mit den trostlosen, abgewrackten Holz-Einfamilienhäusern, sieht er Nachbarn, die sich anschreien oder gegenseitig verprügeln.

»Hillbilly Elegy« ist ein dichtes und verstörendes Sozialdrama und erzählt diese Geschichte in Rückblenden aus der Sicht des jungen Mannes, der in Yale studiert und kurz davor steht, seinen Studienplatz zu verlieren oder einen grandiosen Job an Land zu ziehen, der sein Studium rettet und eine Eintrittskarte in die Upperclass sein dürfte. Bis plötzlich seine Mutter wegen einer Überdosis Heroin im Krankenhaus landet und er mitten im Bewerbungsmarathon nach Ohio fährt, wo er unter Zeitdruck innerhalb eines halben Tages eine Unterkunft für seine obdachlose Mutter organisieren muss. Von hier aus fächert der Film die Vergangenheit auf, die Stück für Stück das Dilemma der Familie und dabei einer ganzen Klasse erzählt.

Die Frage nach der Klassenzugehörigkeit prägt auch das Leben an der Eliteuniversität, weil sich der mittlerweile zum Mann gereifte Junge in Yale eher schlecht zurechtfindet, egal ob es um den richtigen Ton bei der Unterhaltung mit potenziellen Arbeitgebern oder um die Tischmanieren geht. Die Angst davor, beim schicken Dinner die falsche Gabel zu nehmen und so seinen Lebensweg zu versauen, ist selten so eindringlich inszeniert worden. In dieser Misere hilft ihm seine bildungsbürgerliche Mittelschichtfreundin.

Der Film setzt das Thema Klassenzugehörigkeit in den USA aufschlussreich in Szene und zeigt, wie er als soziale Segregationslinie und als kulturelle Identität funktioniert - ohne den voyeuristischen Ansatz, den Fernsehdokumentationen hierbei immer an den Tag legen. Ein wenig mag diese Erzählung den einen oder anderen an Didier Eribons auch hierzulande heiß diskutiertes Buch »Rückkehr nach Reims« erinnern, wobei die Unterklasse in Kentucky und Ohio keinerlei kommunistische Vergangenheit hat. Irgendwelche vordergründigen politischen Parteinahmen, etwa für Trump, gibt es hier nicht. Wobei die Zurechtweisung des Enkels durch die Großmutter, als er politisch korrekt von »Native Americans« spricht und sie ihm über den Mund fährt, die hießen in Wirklichkeit »Indianer«, Bände über die politische Grundhaltung der Figuren spricht. Auch in anderer Hinsicht unterscheidet sich dieses Sozialdrama deutlich etwa von einem Ken-Loach-Film. Vor allem die Buchvorlage von Vance, aber auch der Film warten mit einer ganz eindeutigen platten neoliberalen Moral auf. Jeder kann den sozialen Aufstieg schaffen, das hat nur etwas mit dem Willen zu tun - und mit ein wenig Unterstützung, in diesem Fall von der Großmutter, die ihren Enkel schließlich autoritär auf den Pfad des Fleißes führt. Wer nicht funktioniert, ist eben selbst schuld.

Den guten Noten in der Highschool folgen Gehorsam im Marine Corps, ein Irak-Einsatz, der Besuch der Elite-Uni und dann die wohl verdiente Festanstellung bei dem Paypal-Gründer und neoliberalen Hardcore-Ideologen Peter Thiel als Investmentbanker - das ist jedenfalls die Biografie des realen J. D. Vance. Kritiker in den USA sehen in seinem Buch eine Erzählung, die als Paradebeispiel eines vermeintlichen US-amerikanischen Märchens dem Baukasten der »Reaganomics«-Logik entnommen zu sein scheint. Empowerment bedeutet hier, sich erfolgreich am Markt zu behaupten und das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Insofern ist es auch nicht überraschend, dass J. D. Vance vor zwei Jahren für eine Bewerbung um einen US-Senatorensitz für die Republikaner im Gespräch war. Das Thema Rassismus spielt in Buch und Film keine Rolle, der Fokus bleibt auf dem, was aus der weißen Arbeiterklasse des Rust Belt im Zuge der Deindustrialisierung geworden ist, inklusive eines Schwenks ins ländliche Kentucky. »Hillbilly Elegy« entwickelt dabei aber keine emanzipatorische Perspektive. Solidarität gibt es nur innerhalb der Familie, und deren Kehrseite ist, dass jede Gewalttat innerhalb der Familie verbleibt und intern geregelt wird gemäß den gültigen Hierarchien.

Schauspielerisch wird dieser dramaturgisch in seinen aufgefächerten Rückblenden gut durchkomponierte Film durchaus überzeugend umgesetzt. Glenn Close flucht sich als Großmutter Zigaretten rauchend durch den Film und Amy Adams, die sonst Supermans Freundin Lois Lane spielt oder in »Arrival« eine Linguistin mit Haus am Strand gibt, verkörpert die aggressive, hilflose und zutiefst frustrierte Mutter des jungen J. D. glaubwürdig. Eine wirkliche Kritik an Geschlechterrollen, ihren sozialen Zuschreibungen und ökonomischen Zwängen bietet der Film aber nicht. Ganz am Ende schafft es der Film-J. D., nach einer zehnstündigen nächtlichen Autofahrt gut frisiert im Anzug zu seinem Vorstellungsgespräch zu kommen und die Misere in Ohio hinter sich zu lassen, während die Mutter in einem Motelzimmer herumliegt. »Ich bin froh, hier zu sein«, ist der Schlusssatz dieses Films, der mit seiner hollywoodesk aufgesetzt wirkenden Selbstbeweihräucherung in Sachen Familiensolidarität mehr davon erzählt, wie man die Misere der weißen Arbeiterklasse in Ellenbogenmanier hinter sich lassen kann, als sich wirklich damit auseinanderzusetzen.

»Hillbilly Elegy« ab 24.11. auf Netflix