nd-aktuell.de / 03.12.2020 / Kultur / Seite 13

Der Zufall ist die Heimat

Die Erzählungen von Jonas Eika sind subtiler und auch kraftvoller als die meiste aktuelle politische Literatur

Michael Wolff

Schon auf der dritten Seite verschwindet ein Haus im Erdboden von Kopenhagen. Der Erzähler, ein IT-Berater, hatte einen Termin in dem Bankgebäude, er sollte helfen, ein Computerprogramm zu implementieren. Nun steht er vor den Ruinen dieser einstmals so fein justierten Hardware. »Unter den äußeren Trümmern erahnte ich den Rand eines Kraters, an dem die Erde steil in sich einsank, so wie die Lippen alter Menschen mitunter im Gesicht einsinken.«

Der Anblick fügt sich gut ein in die Biografie des Erzählers, die von Gesetzmäßigkeiten abhängt, die jenseits seines Verständnisses liegen, so als spielte sich sein Leben in unbekannten Dimensionen ab.

Fluchtartig hatte er die Stadt vor Jahren verlassen, er ist geschieden, hat keine Freunde, lebt, ohne dafür einen Grund angeben zu können, in Malaga und arbeitet in einem Beruf, für den ihn kaum etwas qualifiziert. Ein versunkenes Bankhaus stellt nur das sichtbarste Symptom der Unerklärlichkeit jener Verhältnisse dar, die ihn bestimmen. Der Prosaband des 1992 geborenen Dänen Jonas Eika ist so dünn wie tiefgründig. Eine alte Frage zieht sich durch die knapp 160 Seiten von »Nach der Sonne«: Wie kann ein Mensch in einer Welt leben, die er nicht versteht? Auf den IT-Berater wartet eine Antwort und damit so etwas wie ein Happy End. Er trifft auf Alvin, einen jungen Mann, der mit Derivaten handelt, also Wetten auf Preisentwicklungen abschließt. Nacht für Nacht liegen die beiden nebeneinander in Alvins Bett, ihre Computer auf den Bäuchen, und versuchten der Zukunft Geld abzutrotzen. Vielleicht ist die Bank in ein solches Loch gestürzt, das für Bruchteile einer Sekunde zwischen zwei Klicks klaffen müsste, jene Zeitspanne, in der die Zukunft bereits verkauft ist, aber noch kein Käufer sie entgegengenommen hat.

Am Ende steigt der Erzähler in den Krater, in dem die Mitarbeiter sich längst eingerichtet haben, in den Nischen der Gewölbe mit ihren Laptops auf dem Schoß kauern, als gälte es den Widerstand gegen tektonische Verschiebungen aufzugeben. Es steckt eine große Stärke in diesem Bild, sich nicht als Opfer einer absurden Welt zu verstehen, sondern deren Kontingenz im Gegenteil als Heimat anzunehmen.

Auch die zweitgeteilte Story »Bad Mexican Dog« führt über den Rand der rationalen Welt. Der Erzähler ist ein Beach Boy, ein 15-jähriger Lohnsklave, der Touristen am Strand bedient, nicht selten am Rande der Prostitution. »Wenn man ihrem Bild entsprechen will, muss man sich selbst in ein Ding verwandeln«, erklärt Immanuel, der Schwarm des Erzählers, der schon bald nur noch Manuel und dann Manu genannt werden will und am Ende im Wagen einer älteren Französin verschwindet.

Ein Zubrot verdienen sich die jungen Männer durch Erpressungen. Sie bitten naive Paare, sie in Kurzfilmen zum Schein zu misshandeln. Ihr Chef fordert daraufhin Geld von den Urlaubern, damit die Clips nicht im Internet landen. Das Ausüben von Macht ist diesen jungen Männern nur möglich, indem sie sich noch weiter erniedrigen.

Jonas Eika skizziert eine globale Unterschicht, die in dieser Welt keine Gerechtigkeit erfahren wird. Gerade deswegen müssen die Boys übernatürliche Kräfte entfesseln. Wer in der Wirklichkeit nur verlieren kann, muss diese verlassen. Als einer von ihnen von einem Touristen erschlagen wird, erwecken die anderen ihn in einem sexuellen Ritual wieder zum Leben. Und am Ende beschwören sie eine Apokalypse herauf, eine große Abrechnung mit den Touristen. Da öffnen sich die Tore des Himmels über dem Strand, gleißendes Licht fällt herab und verscheucht die Grausamkeit aus den Schatten der Sonnenschirme.

Jonas Eika ist auch Aktivist. In der Dankesrede zur Verleihung des Literaturpreises des Nordischen Rates, den er für »Nach der Sonne« erhielt, warf er Dänemark »staatlichen Rassismus« vor. Auch seine Erzählungen können politisch gelesen werden. Dabei sind sind sie zugleich subtiler als auch kraftvoller als das meiste, was an politischer Literatur derzeit erscheint.

Eika übt keine Kritik an den Verhältnissen, er unternimmt Expeditionen zum Ort ihrer Entstehung, fährt hinab in den Maschinenraum unserer Realität und spielt mit all dem schweren Gerät, das unsere Körper und Seelen kontrolliert.

Jonas Eika: Nach der Sonne. A.d.Dän. v. Ursel Allenstein. Hanser Berlin, 160 S.,geb. 20 €