nd-aktuell.de / 03.12.2020 / Politik / Seite 4

Tödliche Unfälle am Bau nehmen zu

Gewerkschaft IG BAU kritisiert, dass während der Corona-Pandemie die Kontrollen vernachlässigt werden

Hans-Gerd Öfinger

Dass in Corona-Zeiten vielfach die Belange der abhängig Beschäftigten unter die Räder kommen, zeigt nicht nur die anhaltende Offensive in Wirtschaft und Politik zur Aushöhlung von Schutzrechten und Errungenschaften. Ob ungewollt oder gewollt - faktisch versagen aufgrund staatlicher Anordnungen auch die staatlichen Organe, die eigentlich die Einhaltung von Gesundheits- und Sicherheitsregeln in den Betrieben überwachen sollen.

Ein Aufschrei der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) bringt es auf den Punkt: Die Corona-Pandemie hat die behördlichen Arbeitsschutzkontrollen weitgehend zum Erliegen gebracht. Einige Bundesländer hätten die Kontrollen ihrer Aufsichtsbehörden in der Corona-Pandemie sogar ganz eingestellt, beklagte die Gewerkschaft am Mittwoch. »Die Ämter für Arbeitsschutz haben in weiten Teilen auf Homeoffice umgestellt. Baustellenkontrollen sind deshalb rapide zurückgegangen«, bemängelte Gewerkschaftschef Robert Feiger. »Einige Bundesländer lassen so den Arbeitsschutz regelrecht schleifen - und das betrifft ausdrücklich auch den Schutz vor einer Covid-19-Infektion am Arbeitsplatz«, kritisierte Feiger. Dabei seien gerade unangemeldete Kontrollen in den Betrieben ein wichtiges Instrument, um Verstöße beim Arbeitsschutz aufzudecken und Infektionsschutz durchzusetzen, gibt er zu bedenken.

Wenn sich die Behördenmitarbeiter nun zum persönlichen Schutz vor Corona ins Homeoffice zurückziehen, fallen solche Stichproben in den Betrieben mit Überraschungseffekt weg. Dies lädt Vorgesetzte und gestresste Beschäftigte dazu ein, leichtsinniger und fahrlässiger zu werden. Feiger hält es daher für »nicht nachvollziehbar«, warum Aufsichtspersonen nicht mehr in die Betriebe und auf Baustellen geschickt würden. Es sei »geradezu absurd, wenn diejenigen, die sich professionell um Infektionsschutz am Arbeitsplatz kümmern, dies nicht mehr machen dürfen und zu Hause bleiben müssen«, kritisiert der Gewerkschaftschef. »Das Schützen ist schließlich ihr Job.« Angesichts rasant gestiegener Infektionszahlen sei es dringend geboten, dass sie wieder in Betrieben und auf Baustellen gingen, sagt Feiger. Angesichts einer anhaltend guten Auftragslage in der Bauwirtschaft mit vielen Überstunden müssten staatliche Stellen eigentlich viel genauer hinschauen. »Um Verstöße bei Arbeitsschutz und Arbeitszeiten aufzudecken und die Corona-Prävention zu verbessern, sind mehr und nicht weniger Kontrollen nötig«, stellt er klar.

Die IG BAU stützt sich auf eigene Recherchen an der Basis und offizielle Zahlen. Laut aktueller Unfallstatistik der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) hat die Zahl der tödlichen Arbeits- und Wegeunfälle in der Bauwirtschaft in den ersten neun Monaten 2020 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 30 Prozent zugenommen. 87 Menschen kamen ums Leben, 20 mehr als von Januar bis September 2019. »Sicherheit ist das A und O auf dem Bau. Je weniger kontrolliert wird, umso mehr wird der Arbeits- und Gesundheitsschutz auf die leichte Schulter genommen«, erklärte Feiger.

Auch wenn die paritätisch von Wirtschaft und Gewerkschaften kontrollierten Berufsgenossenschaften Baustellen nach wie vor intensiv überwachten, könnten sie »das Loch, das staatliche Stellen ins Kontrollsystem reißen, bei weitem nicht« schließen, beklagte der IG-BAU-Chef. Daher erwartet seine Gewerkschaft jetzt vom Bundesarbeitsministerium und von Ressortchef Hubertus Heil (SPD) Rückendeckung. Schließlich müsse auch der Bund ein Interesse daran haben, dass die den Landesregierungen unterstellen Behörden so schnell wie möglich zu ihrer vollen Kontrollaktivität zurückkehrten. »Den Homeoffice-Leerlauf« bei der Überwachung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes »können wir uns nicht länger erlauben«, betont er.

Die beklagte Misere hat eine lange Tradition. Denn die Aufsichtsbehörden der Länder wurden schon seit Jahren durch staatliche Kürzungspolitik ausgedünnt. Wo ein gut funktionierender Betriebsrat wirkt, hat der Arbeitsschutz einen höheren Stellenwert. Laut Paragraf 87 des Betriebsverfassungsgesetzes hat der Betriebsrat die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie den Gesundheitsschutz zu überwachen und darf hier mitbestimmen. Tatsächlich werden in Westdeutschland jedoch nur noch 42 Prozent und in Ostdeutschland nur 35 Prozent der Beschäftigten in Privatbetrieben von einem Betriebsrat vertreten.

»Arbeitsschutz ist keine Kür für Schönwetterzeiten, sondern eine systemrelevante Tätigkeit, die auch während der Pandemie weitergehen muss«, erklärte der Linke-Bundestagsabgeordnete Pascal Meiser am Mittwoch. Er fordert verbindliche Mindestanforderungen für die Personalausstattung und eine Festschreibung der Häufigkeit von aktiven Betriebsprüfungen.