nd-aktuell.de / 05.12.2020 / Kultur / Seite 38

Alan, geboren in KobanĂȘ

Kobane war Rehannas Heimat, der Ort, an den sie 2011 für Ghalibs Geburt zurückkehrte, die Stadt, in die sie 2012 flüchtete, als die Kämpfe und Selbstmordattentate das Leben in Damaskus zu gefährlich machten, und in der sie blieb, während ihr Mann nach Istanbul pendelte, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Kobane war Rehannas sicherer Hafen. Für Abdullah verging kein Tag in der Türkei, an dem er nicht an seine Frau und seinen Sohn dachte. Rehanna war mit Alan schwanger, und Abdullah wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich wieder bei ihr zu sein. Er kehrte zurück, bevor Alan auf die Welt kam. Wenige Tage vor der Geburt telefonierten wir. »Ich platze bald«, sagte Rehanna und lachte ihr ansteckendes Lachen. Ich nannte sie mittlerweile Farhana, das arabische Wort für »fröhlich lachend«.

»Es ist so heiß, und dieses Äffchen in mir tritt mich die ganze Zeit. Wenn Abdullah sein Ohr auf meinen Bauch legt, muss ich mich immer rechtzeitig wegdrehen, damit er nicht getreten wird.«

»Was hast du heute gemacht?«, fragte ich sie.

»Wir haben nach dem Olivenhain deines Vaters geschaut«, erzählte sie. »Die Oliven sind riesig. Wie ich. Ich wünschte, du könntest sie sehen. Ich mache ein Foto und schicke es Baba. Er wird stolz sein.«

Alan kam nicht am errechneten Geburtstermin zur Welt. »Das Äffchen kommt nicht raus. Dabei kann ich es kaum erwarten«, meldete Abdullah in einer SMS.

Endlich setzten die Wehen ein. Abdullah rief Rehannas Mutter und meine Schwester Maha an, und sie eilten mit Rehanna ins Krankenhaus. Die Bedingungen dort hatten sich drastisch verschlechtert, seit im Umland von Kobane gekämpft wurde. Nur einer der diensthabenden Ärzte in der Klinik konnte einen Kaiserschnitt machen. Es gab Komplikationen.

»Rehanna hatte fast einen Herzstillstand. Sie musste reanimiert werden«, berichtete Abdullah, als ich anrief, um zu erfahren, wie es lief. »Sie hat sehr viel Blut verloren, und im Krankenhaus war ihre Blutgruppe knapp. Doch zum Glück ging alles glatt. Alhamdulillah.«

Der muslimischen Tradition folgend, blieb Abdullah im Wartebereich der Klinik, betete, ging auf und ab und nervte Maha mit Fragen, wann auch immer sie aus dem Entbindungszimmer kam. »Maha, finde heraus, was los ist«, forderte er. Endlich verkündete sie: »Alf mabrouk! Mein Glückwunsch! Es ist wieder ein Junge.«

Abdullah und Rehannas zweiter Sohn, Alan, wurde am 6. Juni 2013 geboren, am Rande des einen und im Epizentrum eines weiteren Kriegsgebiets. Der Kreislauf des Lebens macht selbst im Krieg nicht halt. Ich sprach mit dem stolzen Vater. Beglückt hielt er sein Baby im Arm: »Habib albi, er ist so klein. Er ist schön wie ein leuchtender Mond. Sag’ was zu deiner Ammeh«, forderte er den Kleinen auf und hielt ihm das Telefon ans Ohr.

»Hallo, mein Süßer, ich kann nicht erwarten, dich zu sehen«, antwortete ich gerührt. - »Fatima, ich schwöre, er lächelt dich an«, setzte Abdullah unser Gespräch fort. - »Wie geht es Rehanna«, wollte ich wissen. - »Alles in Ordnung, es geht ihr gut.«

Abdullah schickte ein Foto des süßen Kindes. Alan hatte so helles Haar, dass ich mir einen Scherz nicht verkneifen konnte: »Ihr seid beide so dunkel. Woher hast du diesen Jungen? Mashallah, er sieht aus wie ein Engel.«

Ein paar Wochen später nahm Abdullah beide Kinder mit in ein Internet-Café und wir skypten. Endlich konnte ich Alan sehen, während ich mit ihm sprach. Er war winzig und schlief ganz friedlich auf dem Arm seines Papas. »Dieser Junge ist ein Engel. Er schläft traumhaft gut, und wenn er wach ist, ist er glücklich und zufrieden«, erzählte mein Bruder begeistert. »Ich habe noch nie ein Neugeborenes so häufig lächeln gesehen.«

Ghalib lächelte nicht. Er war alles andere als beeindruckt vom Nachwuchs in der Familie. »Wie schön, du hast ein Brüderchen!«, ermunterte ich ihn, mit mir zu reden. - »Er ist ein Esel. Ich mag ihn nicht«, antwortete er. Er sah seinen Vater an: »Bring’ ihn dorthin zurück, wo du ihn hergeholt hast. Wie viel hat er gekostet?« - »Einen Lira«, scherzte Abdullah. Ghalib überlegte. »Okay«, sagte er schließlich. »Dann los, lass uns ihn eintauschen.« Unser Lachen weckte Alan, der begann, wie ein Täubchen zu gurren.

»Hast du schon einen Namen für den Kleinen?«, fragte ich Abdullah. - »Ich traue mich kaum, aber ich würde ihn gern nach deinem Sohn nennen. Darf er Alan heißen? Es ist ein wunderschöner kurdischer Name. Rehanna gefällt er auch.«

Natürlich war ich einverstanden: »Es ist mir eine Ehre.«

Nach Alans Geburt blieb Rehanna, trotz der Härten des Kriegsalltags, gut gelaunt und optimistisch. Wenn es kein Wasser und nichts zu essen gab oder der Strom ausfiel, sagte sie: »Das ist der perfekte Moment, um zu den Sternen hochzuschauen und sich am Licht des Mondes zu erfreuen. Er leuchtet wie eine riesige Kerze.« Wenn sie Feuerholz nehmen mussten, um zu kochen, witzelte sie: »Wir leben halt in der Steinzeit.«

»Sie war jung und verliebt«, sagte Maha kürzlich, als wir, wie so oft, traurig über unsere viel zu früh gestorbene Rehanna und die Jungs sprachen. »Sie vergötterte Abdullah. Immer wieder sprach sie ihm Mut zu: ›Mach dir keine Sorgen. Irgendwann endet der Krieg, und alles wird gut.‹«

»Sie war eine wunderbare Ehefrau und eine liebevolle Mutter. Nie beklagte sie sich über irgendetwas. Sie hoffte auf eine bessere Zukunft«, beschreibt Abdullah sie noch heute.

Bald nach Alans Geburt musste mein Bruder zurück zu seinem Job in Istanbul. Er sparte jeden Cent, um die Familie so schnell wie möglich nachzuholen. Der Abschied - wenn auch nur auf Zeit - war für alle schmerzhaft. »Ghalib hielt meine Hand ganz fest«, erinnerte Abdullah sich. »Er hob die andere Hand hoch zu Allah und sagte mit lauter Stimme: ›Möge Gott uns mehr schenken.‹ Wenn ich in den Bus stieg, winkte er und rief: ›Bring Bananen mit, wenn du zurückkommst, Papa.‹ Das gab mir die Kraft, durchzuhalten.«

Die Gewalt im Land nahm zu. Der Syrienkrieg hatte viele Städte in den westlichen und südlichen Provinzen in Schutt und Asche gelegt. Auch Hama, den Geburtsort meines Vaters. In anderen Landesteilen bekämpften sich die syrische Armee und Rebellentruppen, doch noch war Kobane ein relativ ruhiger und sicherer Ort. Im August 2013 töteten IS und die al-Nusra-Front viele Menschen, darunter Frauen und Kinder, bei einem Massaker in der Provinz Aleppo. Es folgten Terrorangriffe auf Städte und Dörfer in der Nähe von Kobane. Tausende Zivilisten mussten fliehen. Manche suchten in Aleppo-Stadt Zuflucht, andere versteckten sich in Kobane. Wieder andere setzten sich über die nahegelegene Grenze in die Türkei ab. Wer in der Region blieb, riskierte, entführt, für Lösegeld festgehalten, gefoltert und geköpft zu werden. Die Gerüchte über verstärkte Kampfhandlungen in der Region von Aleppo, in Idlib im Westen und Homs im Süden machten Reisen nach Damaskus zu einem lebensgefährlichen Abenteuer. Die Terroristen hatten Kobane umzingelt.

Wenige Monate nach Alans Geburt machten sich Rehanna und die Kinder auf den Weg zu Abdullah in die Türkei. Der Terror herrschte jetzt überall in der Region. Ein Schleuser sollte sie sicher über die Grenze bringen. Sie folgten ihm im Gänsemarsch. Die ganze Strecke war vermint. »Bleibt zusammen«, erinnerte sie der Fluchthelfer immer wieder. »Lauft genau hinter mir.« Irgendwann trat ein kleines Mädchen aus der Reihe. Eine Landmine explodierte und riss ihr die Beine ab. Rehanna und ihre Söhne hatten Glück. Sie kamen sicher durch die Gefahrenzone.

In Istanbul fand Abdullah eine Wohnung für die ganze Familie für 400 Lira im Monat. Er arbeitete unermüdlich und verdiente 650 Lira, doch schon bald reichte das nicht mehr, um Miete und Essen zu bezahlen. Dennoch blieb er, denn hier waren seine Lieben sicher vor der täglichen Gewalt des Krieges.

Daheim in Syrien kam der Herbst, der kalte Winter würde bald folgen, und ein Ende der schrecklichen Kämpfe war nicht in Sicht. Meine Geschwister mussten sich der Entscheidung stellen, vor der auch Rehanna gestanden hatte: in Syrien bleiben und das eigene Leben sowie das Leben der Kinder riskieren oder in die sichere Türkei fliehen. Familie, Freunde und Bekannte - sie alle lebten in permanenter Angst. Jeden Morgen, wenn sie aufbrachen, um etwas zum Essen zu organisieren, fragten sie sich: »Wird mein Haus noch stehen, wenn ich zurückkehre? Werden meine Kinder einen weiteren Tag überleben? Werde ich umkommen und sie als Waisen zurücklassen?« Jeden Abend, jede Nacht herrschten Angst und Unsicherheit: »Werde ich morgen aufwachen? Und wenn ja, was wird mich erwarten?«

Mohammads und Ghousons sechsköpfige Familie beschloss, nach Kobane und dann weiter in die Türkei zu fliehen. Ihr zwölfjähriger Sohn Shergo hatte einen Leistenbruch, und in der Türkei würde er operiert werden können. Doch mittlerweile war der Landweg für Männer sehr gefährlich geworden, und für Kinder war er noch gefährlicher. Mohammads ältere Tochter Heveen war damals vierzehn, Ranim, die jüngere, war sechs, Rezan, der kleine Sohn, war vier. Die Familie passierte zahllose Checkpoints und begegnete immer wieder Terroristen, die über die türkische Grenze nach Syrien strömten. Obwohl viele von ihnen nicht einmal selbst Syrer waren, attackierten sie syrische Flüchtlinge und beschimpften sie als »Treulose« und »Landesverräter«. Die kurdische Miliz sperrte alle Zugangsstraßen nach Kobane. Die Einwohner der Stadt brauchten Passierscheine, um sie verlassen zu dürfen.

Ghouson ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Sie war eine Powerfrau und ebenso hartnäckig wie meine jüngste Schwester Hivron. Ghouson hätte alles getan, um ihre Kinder zu schützen. »Was würden Sie denn tun, wenn Ihr Sohn stirbt?«, fragte sie jeden, der sich ihr in den Weg stellte. Sie gab nicht auf und verbrachte einen ganzen Tag auf dem Amt, bis sie die Ausreisepapiere in der Hand hatte.

Mit dem Passierschein der kurdischen YPG-Miliz besaß Mohammads Familie die Genehmigung, Kobane zu verlassen. Nun stand ihnen der gefährliche Transit in die Türkei bevor. Kurz vor der Grenze stellte sich ihnen eine Rebellengruppe in den Weg. Sie schlugen Mohammad und beschuldigten ihn, ein kurdischer kafir zu sein, ein Kombattant, der sein Land verrate. Dann drückten sie Shergo ein Gewehr in die Hand und befahlen ihm, seinen Vater zu erschießen.

»Minshan Allah, bitte nicht«, flehte Ghouson und fiel auf die Knie. »Wir sind einfache Menschen, die in die Türkei wollen, wo unser Sohn operiert werden kann.« Sie betete, bis die Terroristen Shergo die Waffe abnahmen. Mohammad musste beweisen, dass er ein Muslim ist, indem er eine Zeile aus dem Koran zitierte. Schließlich ließen die Rebellen ihn mit seiner Familie ziehen.

Der Junge am Strand

Es war ein Foto, das um die Welt ging und die Menschheit erschütterte: das Bild eines kleinen Jungen, der tot an einem Strand der türkischen Küste lag. Der Name des Kindes ist Alan Kurdi. Sein Schicksal und das seiner Familie wurde zum Symbol für die verzweifelte Notlage von Millionen von Menschen, die vor dem Krieg in Syrien flohen und sich in Europa eine sichere Zukunft erhofften. Von den nach Jasmin duftenden Vierteln von Damaskus vor dem Krieg über die Straßen von Aleppo während des Krieges bis hin zu den Flüchtlingslagern in der Türkei und den Vorstädten von Vancouver - »Der Junge am Strand« ist die Geschichte einer Familie, die von Verbundenheit, Verlust und der beharrlichen Suche nach einem sicheren Hafen in einer verheerenden Kriegszeit erzählt.

Tima Kurdis Memoiren geben denen eine Stimme, die keine Gelegenheit hatten, für sich selbst zu sprechen. Sie schildern ein Schicksal, das für alle steht und die gesamte Menschheit betrifft. Ihr Buch ist ein einzigartiges Zeugnis, ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rechte der Flüchtlinge. Und ein Weckruf an die Welt, um das Sterben im Mittelmeer zu beenden und menschenwürdige Bedingungen des Ankommens zu schaffen.

Tima Kurdi:
Der Junge am Strand. Die Geschichte einer Familie auf der Flucht[1]
Aus dem Englischen von Lilian-Astrid Geese
Mit einem Geleitwort von Gorden Isler (Sea-Eye)
Assoziation A
248 S., br., 19,80 €

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  1. https://www.nd-aktuell.de/shop/article/9783862414772