nd-aktuell.de / 07.12.2020 / Kultur / Seite 13

Einfach nur absurd!

Queer gestreamt

Marie Hecht

»Sie machen aus den einfachsten Sachen ein Problem. Langsam ist das echt armselig.« Zwei Sätze aus einem Film, die gerade auf mehrere Ereignisse aus der Streamingwelt zutreffen und die für mich zusammenfassen, woran es in unserer Gesellschaft krankt. Vor einigen Tagen outete sich der Schauspieler Elliot Page (bekannt aus »Juno« und »Umbrella Academy«) auf Instagram als trans und veröffentlichte einen bewegenden Brief, in dem er sich nicht nur über die Liebe zu seinem authentischen Selbst freut und seinen Wegbegleiter*innen aus der trans-Community dankt, sondern auch Politiker*innen anprangert, die Transpersonen ihre Existenz absprechen und Gewalt gegen sie schüren. »You have blood on your hands«, schreibt er. Auch in einer Facebook-Gruppe, die sich als feministisch ausgibt, tauchen zu Pages Outing transfeindliche Kommentare auf. Ähnliche Äußerungen finden sich zu dem eingangs erwähnten Film, der gerade in der Arte-Mediathek gestreamt werden kann.

»Ein Mädchen« (Original: »Petite Fille«) ist ein französischer Dokumentarfilm, der eine Familie porträtiert, die darum kämpft, dass ihre Tochter so akzeptiert wird, wie sie ist. Mit dem bei ihrer Geburt zugewiesenen Geschlecht (männlich/Junge) kann sie sich nicht identifizieren. Sie ist ein Mädchen. Saschas Umfeld macht ihr jedoch ständig Probleme. In der Schule wird es ihr verwehrt, mit dem Pronomen »sie« bezeichnet zu werden und auch bei der Kleidung wird ihr vorgeschrieben, was sie zu tragen hat: Hosen sind okay, Kleider nicht. Ganz ruhig und sanft gefilmt, begleitet der Film Sascha und ihre Familie ein Jahr lang. Wir bekommen einen Einblick in einen Teil der Widrigkeiten, denen Menschen, die sich nicht als cis identifizieren in unserer Gesellschaft, ausgesetzt sind. (»Cis« bezeichnet jene, die sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurden, identifizieren. »Cis« ist das lateinische Präfix für »auf dieser Seite, diesseits, binnen, innerhalb«.)

Sébastien Lifshitz möchte mit seinem Film »helfen, zu verstehen, was Transidentität bedeutet«, sagt er in einem Interview. »Ein Mädchen« ist ein Film gemacht von cis-Menschen für cis-Menschen über die absurden Problemkonstruktionen von cis-Menschen. Der Fokus des Films liegt nicht auf Saschas Erleben, sondern auf ihrem Umfeld. Dem, welches sie mit aller Kraft unterstützt, so wie ihre Familie, und dem, welches sie diskriminiert, angreift und negiert.

Der Film zeigt, was um die Protagonistin herum aufgebaut wird, während Sascha einfach nur sie selbst sein möchte. Es ist absurd, wie viele Menschen involviert sind in diese intime Angelegenheit von Saschas eigener Identität und wie viel Zeit und Energie sie darin investieren, einem Mädchen das Leben schwer zu machen. Die Familie muss von der kleinen Provinz Laon in Nordfrankreich nach Paris reisen, um ein medizinisches Attest zu besorgen, das etwas beweist, was Sascha bereits seit ihrem dritten Lebensjahr klar ist. Ihre Mutter hängt ständig am Telefon, um neue Termine mit Eltern, Lehrer*innen und dem Rektor zu vereinbaren.

Der Film führt uns vor Augen, wie armselig es ist, Situationen, die ganz einfach zu lösen sind (also Sascha ist ein Mädchen und lebt als solches), zu problematisieren und dadurch Menschen ihre Würde zu versagen, Energie zu rauben, sie in Gefahr zu bringen.

Und Sascha? Lässt bei Zeiten, trotz skeptischer Blicke in die Kamera, ihren Schutzwall fallen. Dann sehen wir im Close-Up, wie sich ihr Gesicht schmerzvoll verzehrt und Tränen ihre Wangen hinunter kullern. Worte kann Sascha selten finden. Die Kamera beobachtet sie trotzdem eingehend. Ihr direktes Umfeld, ihre Familie, findet hingegen erstaunlich deutliche Worte. Wie ihr Vater, der mit runzelnder Stirn in der Küche steht und diese zwei Sätze formuliert, die auf mich so nachhaltig wirken. Es wird viel über Sascha gesprochen. Um Sascha selbst geht es nicht wirklich. Sondern darum, dass die Geschichte eines jungen Mädchens von acht Jahren dafür herhalten muss, uns cis-Menschen zu erklären, wie es ist, als Transperson in unserer Gesellschaft zu leben und aufzuwachsen. Obwohl mich der Film als cis-Frau unglaublich berührt und mitnimmt, komme ich nicht umhin, mich zu fragen, wie Sascha in zehn oder 20 Jahren über diesen Film denken wird und darüber, wie wir uns über sie vermittelt beobachtet haben, um uns selbst zu verstehen.