Unwillkommen

Andreas Kossert über Flucht und Vertreibung - damals wie heute

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Erinnerung an den Auszug der Israeliten aus Ägypten bildet den religiösen Hintergrund für das achttägige Pessachfest, das Juden jährlich im Frühjahr begehen. Als die sephardisch-jüdische Familie von André Aciman 1965 Ägypten wegen der antijüdischen Politik der Regierung in Kairo verlassen muss, weigert sich der damals 14-Jährige, ein Gebet zum Gedenken an seinen verstorbenen Großonkel aus dem Buch über die Flucht der Israeliten aus dem Reich der Pharaonen vorzulesen. Der Junge ist inzwischen ein gefeierter US-amerikanischer Schriftsteller. In seiner Familie sprach man Französisch, Italienisch, Griechisch, Arabisch und Ladino (Jüdisch-Spanisch). Die Flucht der Acimans ist eines von Hunderten Schicksalen, die Andreas Kossert in seiner beeindruckenden Menschheitsgeschichte anruft.

Der 50-jährige Autor gilt als der Spezialist für die Vertreibungs- und Fluchtgeschichte in Ost-Mitteleuropa. Seine Arbeiten über Flucht und Umsiedlung von 14 Millionen Deutschen nach 1945 aus den von Nazideutschland okkupierten und nunmehr befreiten zur damaligen Sowjetunion gehörenden Gebieten sowie aus der Tschechoslowakei sind Standardwerke. Er lässt Flüchtlinge zu Wort kommen, nutzt literarische Zeugnisse von Nobelpreisträgern, fügt Gedichte , Briefe und biografische Notizen in seine Darstellung ein. In seinem neuen Buch spielen die Deutschen nur eine Rolle unter vielen.

Im Fokus stehen die Juden, die vor Diskriminierung und Pogromen fliehen müssen. Aber nicht minder bedacht werden Armenier, die vietnamesischen »Boatpeople«, Koreaner, Angehörige der ungarischen Minderheit in Slowakei, Indigene in Lateinamerika, Polen, die aus dem heutige Weißrussland flohen, die »Pied noirs« (französische Algerier) und Vertreter verschiedener Ethnien aus dem zerfallenen Jugoslawien. Auch die schier endlose Leidensgeschichte der Palästinenser oder der Tscherkessen und andere Völker des Kaukasus werden bedacht.

Erinnert wird an die Vertreibungen nach der Aufteilung der britischen Kronkolonie Indien in die zwei unabhängigen Staaten Indien und Pakistan sowie Bangladesch. Auch Muslime aus Myanmar (Birma), brutal vertriebene Rohingya, berichten. Die O-Töne werden unterfüttert mit Schilderungen der historischen Zusammenhänge. Der Autor erklärt heutige Fluchtbewegungen vielfach aus dem Erbe des Kolonialismus. Aber auch die USA haben durch imperialistische Interventionen wiederholt Flucht und Vertreibung, so in Südostasien, Lateinamerika und im Mittleren Osten, ausgelöst. Selbst internationale Organisationen sind nicht unschuldig. So hat der Völkerbund mit dem von ihm Anfang der 1920er Jahre durchgesetzten »Bevölkerungsaustausch« zwischen der Türkei und Griechenland Millionen von Heimatlosen auf dem Gewissen.

Kossert bemüht sich um exakte Begriffsklärung: Wer ist ein Flüchtling? Was bedeutet Heimat? Wann ist man angekommen? Der Autor mutet dem Leser viel zu, besonders wenn es um die Erlebnisse von Frauen auf der Flucht geht, die häufig Vergewaltigung und Misshandlungen erlitten und erleiden. Nirgendwo auf der Welt ist der Flüchtling willkommen, selbst nicht von Menschen gleicher Nationalität, Kultur oder Religion. Echte Integration gelingt nur wenigen und selten, oftmals selbst nicht den bereits im Zufluchtsland geborenen Kindern. Heimweh ist kein sentimentales Gefühl, es macht viele Migranten krank, führt mitunter gar zu Selbstmord. Für die meisten Flüchtlinge gilt: »Was war, endet nicht«. Ein etwas entspannteres Kapitel befasst sich mit »kulinarischem Heimweh« und beschreibt zugleich den Zugewinn der Aufnahmegesellschaft durch die »Zuwanderung« von bisher nicht bekannten Speisen und Genüssen. Viele zeitgenössische Fotos zeigen Menschen auf oder kurz vor ihrer Flucht und vermitteln so einen authentischen Kommentar zu deren Geschichten.

Kossert war jahrelang am Deutschen Historischen Institut in Warschau tätig. In seinem eindrucksvollen und erschütternden Buch stützt er sich auf Quellen, die kaum öffentlich sind. Gerade diese bewirken eine beklemmende Lebendigkeit und lassen es zugleich wie einen Appell an uns alle, vor allem an Regierungen, nationale und internationale Organisationen erscheinen, über die Ursachen von Flucht und Vertreibung nachzudenken sowie reale Lösungsstrategien zu entwickeln, um das Leid der Flüchtlinge zu verringern beziehungsweise die Notwendigkeit zur Flucht gänzlich zu beseitigen.

Andreas Kossert: Flucht. Eine Menschheitsgeschichte. Siedler, 432 S., geb., 25 €.

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