nd-aktuell.de / 11.12.2020 / OXI

Von Tagedieben und Zeitmanagern

Kann man Zeit sparen oder ist Zeitmangel eine moderne Form der Armut?

Stephan Kaufmann

Im Roman »Der erste fiese Typ« von Miranda July beschreibt die Protagonistin Cheryl Glickman das »System«, mit dem sie ihren Haushalt und damit ihr Leben in Ordnung hält: So isst sie direkt aus der Pfanne, um den Abwasch zu verkürzen. Schmutzige Wäsche sammelt sie gleich in der Waschmaschine, um sich den Transport vom Wäschekorb zur Maschine zu sparen. »Wie viel Zeit«, fragt Glickman, »verbringen wir damit, Gegenstände von A nach B zu tragen?« Zu viel! Bevor man einen Gegenstand von seinem Ort entferne, solle man stets daran denken, dass man in wieder zurückbringen müsse. »Können Sie das Buch nicht auch lesen, während Sie neben dem Regal stehen und den Finger in die Lücke halten, in die Sie es danach wieder schieben werden? Oder noch besser: Lesen Sie es gar nicht erst.« Und wenn man schon irgendetwas irgendwohin tragen müsse, »nehmen Sie auf jeden Fall alles mit, was in dieselbe Richtung muss. Die Sachen bilden sozusagen eine Fahrgemeinschaft.«
Glickmans Haushalt ist ein Haushalt ihrer Zeit. Und der ist streng. Denn mit Zeit kann man viel falsch machen. Man kann sie verschwenden und verlieren. Tagediebe stehlen anderen die Zeit und schlagen die eigene mitunter tot. Da man die Uhr nicht anhalten kann, widmen die meisten Menschen Teile ihres Lebens einer eigenartigen Disziplin: dem Sparen der Zeit.
Zeit verrinnt, man kann sie nicht anhäufen wie Geld, das Budget steht von vornherein fest, und selbst wer viel Zeit spart, der beginnt jeden Tag bei null. Ausgangspunkt des Bedürfnisses, Zeit zu sparen, ist ihr permanenter Mangel, sie fehlt auf der Arbeit, für Familie und Freunde, für Hobbys, Schlaf und Sport. Ursache für diese Not ist bei den meisten Menschen der Mangel an Geld, der über Arbeit behoben werden muss, das heißt über den Verkauf eines großen Teils des Tages an Unternehmen. Dafür zahlen sie einen Lohn, allerdings nur, wenn unsere Zeit sich für sie lohnt, also einen Profit bringt. Und Profit bringt sie nur, wenn jede Minute möglichst intensiv genutzt wird. Damit ist am Arbeitsplatz Zeitmangel normal, denn er ist gewollt und endet nie. Der Kapitalismus ist kein Wettrennen, weil hinter jeder Deadline das nächste Rennen beginnt.

Der Tag hat für alle Menschen 24 Stunden. Dass die meisten Menschen unter Zeitmangel leiden, liegt daran, dass sie die Verfügung über große Teile ihres Lebens an Unternehmen abtreten müssen. Um diese verlorene Verfügung zu fingieren und zu kompensieren, betreiben sie »Zeitmanagement«: Sie behandeln die Stunden des Tages als Ressource, die es in Portionen einzuteilen und ökonomisch zu konsumieren gilt. Das gilt auch für den Teil des Lebens, der irreführenderweise »Freizeit« heißt. Sobald die abhängig Beschäftigten das Büro und damit den Zugriff des Chefs verlassen, werden sie ihr eigener Manager, sie hetzen durch die Straßen und üben sich im Multitasking und Schlafverzicht, um Zeit zu sparen für jene Dinge, für die sie immerzu fehlt.

Zeit sparen macht nicht reich, Zeitmangel ist eine moderne Form der Armut. Und diese Armut herrscht auch jenseits der Betriebsgrenzen. Auch am Feierabend wird nicht gefeiert, sondern zum einen die Haus- und Familienarbeit erledigt, zum anderen der Körper über Sport und Ruhezeiten leistungsfähig gehalten. Vor dem Hintergrund des Corona-Lockdowns im April 2020 befragte die TU Berlin knapp 1.000 Menschen danach, was sie tun würden, wenn sie eine zusätzliche Stunde pro Tag hätten. Die meisten antworteten »Schlafen«, »Ausruhen« oder »Entspannen«. Das, so die Wissenschaftler, entspricht dem Bild einer »übermüdeten Gesellschaft«, in der über Powernaps, Yoga und Ähnliches versucht wird, das »Runterkommen« effizient zu organisieren. »Wer sich schneller entspannt, ist besser als jemand, der sich nicht so schnell entspannt«, singt Peter Licht in seinem Lied »Wettentspannen«.

In der TU-Umfrage häufig gewünscht wurde auch mehr Zeit für »Sport«, der in Form des »Ausgleichssports« gleich mitbenennt, wozu er nötig ist. Mehr »freie« Zeit von der Lohnarbeit brauchen die Menschen auch für – andere Arbeit: Hausarbeit, Aufräumen/Putzen und Gartenarbeit.
Das Bedürfnis, Zeit zu sparen, beherrscht nicht nur die Sphären von Betrieb und Privatleben. Es wird zur Moral und ein Verstoß gegen diese Moral zur persönlichen Verfehlung, zu einer Charakterschwäche. »Zeitverschwendung«, so die Soziologin Lisa Suckert, »ist im Kapitalismus die schwerste aller Sünden«. Um im kapitalistischen Regime der Knappheit zu überleben, machen die Menschen das Zeitsparen zu einem Wert an sich. Dass sie permanent Aufgaben zu erledigen haben, die sie nicht erledigen wollen oder können, werfen sie nicht der gesellschaftlich organisierten Hetze vor, sondern sich selbst: Ich prokrastiniere!
»Beim Drang, produktiv zu bleiben, geht es um viel mehr als bloß darum, die Miete zu bezahlen«, schreibt die britische Autorin Laurie Penny. »Es ist eine moralische Disziplin.« Jede Frage danach, wie es ihr gehe, beantworte die 34-Jährige »mit einer Übersicht über die Dinge, die ich an diesem Tag erledigt habe«. Ihre prekarisierte Generation der Millennials habe gelernt, dass pausenlose Arbeit ein Schutz gegen die »rollierenden Krisen« sei: »Uns wurde gesagt, wenn wir hart arbeiten, sind wir sicher, und je weniger das gestimmt hat, umso härter haben wir gearbeitet.«

Diese Geisteshaltung ermögliche es Menschen, mit einer Unterdrückungssituation zurechtzukommen, aus der sie nicht entfliehen können, schreibt Penny und zitiert die Psychologin Judith Herman: »Das ultimative Ergebnis (psychologischer Dominierung) ist es, das Opfer davon zu überzeugen, dass der Täter allmächtig ist, dass Widerstand zwecklos ist und dass das Überleben davon abhängt, die Nachsicht des Täters durch absolute Folgsamkeit zu gewinnen.«

Die Coronakrise allerdings hat diese Haltung in mehrfacher Weise erschüttert. Erstens zeigte der Lockdown, dass viele Arbeiten gar nicht unbedingt nötig sind. Zweitens zeigte er »unsere Abhängigkeit von der Arbeit, um zu überleben, ganz unabhängig davon, ob der Job sinnvoll ist«, so Stefanie Gerold von der TU Berlin. Und drittens stellt sich die Frage nach den Ursachen neu: Diese Krise kommt nicht über uns, »weil wir nicht hart genug gearbeitet haben, und sie wird nicht gelöst, indem wir unsere Morgenroutine optimieren«, schreibt Penny. »Dieses Mal wissen wir: Es ist nicht unserer Schuld. Es ist genau die Art von Krise, in der den Menschen Ideen kommen, wie man die gesellschaftliche Ordnung kippt.«
Die gesellschaftliche Ordnung zu »kippen« bedeutet eine Reorganisation der materiellen Ressourcen, der eine Neuverteilung der Zeit folgen würde. Formal hat der Tag zwar für jeden Menschen 24 Stunden, in dieser Hinsicht gibt es nichts zu verteilen. Einige Menschen sind aber tatsächlich in der Lage, Zeit zu sparen. Nicht indem sie von A nach B hetzen und aus der Pfanne essen. Sondern über Geld. Denn Geld ist Zugriff auf die Lebenszeit der Menschen und auf die Produkte ihrer Arbeitszeit. In den USA besitzt das reichste Prozent der Haushalte im Durchschnitt einen Betrag, für den ein normaler Amerikaner 200 Jahre arbeiten müsste. Im Kapitalismus kann man tatsächlich Zeit sparen – die der anderen.

Zeit ist eine ziemlich vertrackte Sache. Jenseits von Physik und Atomuhren zerfällt sie nämlich, individuell erlebt, in ganz viele, jeweils anders wahrgenommene Zeiten. Dass das vor allem unter dem Eindruck besonderer – nun ja: Zeiten so zu sein scheint, haben unlängst Psychologen der John Moores Universität in Liverpool dokumentiert: In einer Studie meinten 40 Prozent, die Zeit verstreiche während Corona schneller als normal. Etwa ebenso viele Befragte erklärten ganz im Gegenteil, die Zeit ziehe sich viel länger hin. Wir wissen, dass die individuelle Schätzung vergangener Zeiträume durch Erinnerungen verzerrt wird. Wir wissen auch, dass die subjektive Beantwortung der Frage, wie viel Zeit seit einem bestimmten Punkt vergangen ist, davon abhängt, wie viel Aufmerksamkeit wir der Zeit widmen. Haben wir viel zu tun, vergeht sie schneller. Sind wir abgelenkt, ebenso. In der Pandemie ist so das Zeiterleben von ganz konkreten Veränderungen im Alltag beeinflusst – die einen mussten zu Hause wenig tun und die Zeit »totschlagen«, die anderen haben sich vor lauter Stress in Klinik und Pflegeheim fast »totgearbeitet«. Das alles passierte sozusagen zeitgleich, aber eben auch in gänzlich verschieden erlebter Zeit. Und so steht er dann da, der Beobachter aus dem verbliebenen Fünftel der besagten Studie, welches trotz Seuche die Zeit als normal erfährt, und blickt auf ein Meer von Zeiterfahrungen – zersprungen wie die Einzelteile von Uhrwerken. Mit denen haben wir diese OXI-Ausgabe illustriert. Schön anzusehen ist es.