Der hustende Mitarbeiter

Alle reden über die wirtschaftlichen Folgen von Corona. Aber welche Folgen hat das bisher kaum eingeschränkte Wirtschaften?

Laut Kultusministerkonferenz waren am 3. Dezember in Deutschland 18.793 von insgesamt 10.031.779 Schülerinnen und Schülern mit dem Coronavirus infiziert. 206.001 befanden sich in Quarantäne. Bei den Lehrern waren 3.401 von 891.767 coronapositiv getestet. Ziemlich viele? Ja. Aber vor allem sind es ziemlich viele genaue Zahlen, mit denen großer Handlungsdruck erzeugt wird. Für weite Teile der Arbeitswelt gibt es dagegen nicht annähernd vergleichbare Daten. Sie werden einfach nicht systematisch erfasst.

So streitet sich etwa am bayrischen Amazon-Standort Graben die Gewerkschaft Verdi mit dem Konzern darüber, wie viele Mitarbeiter infiziert sind. Zwischen 270 und 300 von knapp 2.000 seien krank, sagt die Gewerkschaft und wirft dem Online-Monopolisten Versäumnisse beim Arbeitsschutz vor. Der Konzern bestreitet Hygienemängel wie auch Infektionszahlen. Welche Zahlen stimmen, verrät der Handelskonzern jedoch nicht.

Und die Behörden? Die wissen es auch nicht. Das Gesundheitsamt werde nur über Betroffene informiert, die im Landkreis leben, heißt es gegenüber der »Augsburger Allgemeinen«. Verdi-Sekretärin Sylwia Lech fordert deshalb »mehr Transparenz gegenüber den Beschäftigten und den Behörden«. Und meint damit nicht nur Amazon, sondern auch andere große Unternehmen in der Region. Das Einzugsgebiet der Amazon-Beschäftigten, erklärt Lech dem »nd«, reiche »vom Allgäu bis nach München«. Die Mitarbeiter würden von unterschiedlichen Ämtern abgedeckt, ein Corona-Hotspot falle deshalb nicht sofort auf. »Die Gesundheitsämter müssten landkreisübergreifend besser zusammenarbeiten«, fordert sie.

Fragt man die Behörden nach der Zahl von infizierten oder in Quarantäne befindlichen Beschäftigten in verschiedenen Branchen, bekommt man etwa vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit die Auskunft: »Die Gesundheitsämter sind gehalten, möglichst detailliert bekannte Infektionsquellen an uns zu übermitteln. Die Angabe des Berufs ist nach Infektionsschutzgesetz jedoch nicht vorgesehen.« Außerdem sei es häufig nicht einfach, eine Ansteckung auf genau einen »Expositionsort« zurückzuführen. Soll heißen: Wer kann bei dem unübersichtlichen Infektionsgeschehen schon sicher sagen, ob er sich im Büro angesteckt hat oder in der U-Bahn? Aber nicht einmal eine branchenspezifische Erhebung von Infektionsfällen ist vorgesehen. Ohne die systematische Erfassung von Branche oder Beruf fällt es aber schwer, bei Infektionen irgendwo Häufungen zu erkennen. Damit wäre zwar immer noch nicht klar, ob sich jemand tatsächlich am Arbeitsplatz angesteckt hat, aber es wäre ein Anhaltspunkt, um genauer hinzuschauen. Anders ist es bei Einrichtungen, die »für den Infektionsschutz relevant« sind, wie Altenheime, Sammelunterkünfte, Krankenhäuser oder Schulen. Dort gibt es Meldevorgaben - und entsprechend Daten und öffentliche Debatte.

Die Bedeutung des Arbeitslebens für die Pandemie war vor allem in der Anfangsphase ein Thema: Da wurde breit berichtet, wie es beim Automobilzulieferer Webasto zur Übertragung kam. Der »hustende« Mitarbeiter in einem ominösen Berliner Großraumbüro sorgte für Schlagzeilen, genauso wie später die Massenausbrüche auf Schlachthöfen und Spargelfeldern. Und jeder Beitrag über den späten Durchbruch des Homeoffice beinhaltete mindestens implizit die Anerkennung einer Ansteckungsgefahr am Arbeitsplatz.

Inzwischen erscheinen Tönnies oder Amazon jedoch eher wie skandalöse Einzelfälle besonders verrufener Geschäftemacher. Während über offene Schulen und schlecht gelüftete Klassenzimmer sorgenvoll gestritten wird, kommt das Ansteckungsrisiko am Arbeitsplatz quasi nicht mehr vor. Zwar sind Gastronomie, Kultur und bald wohl auch Einzelhändler durchaus von Corona-Maßnahmen betroffen, aber geschlossen werden sie nicht, weil sich die Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz anstecken könnten, sondern weil der Kundenverkehr als Risiko gilt.

Wie viele Beschäftigte im Augenblick wieder oder noch immer von zu Hause arbeiten, dafür fehlen aktuelle Studien. Aber jeder, der am Morgen in Leipzig oder Berlin die vollen Busse und Bahnen sieht, müsste sich erinnern: Im Frühjahr sah das anders aus. Die Homeoffice-Quote allein erklärt natürlich noch nicht die hohen Ansteckungszahlen. Aber sie ist ein Indiz, wie engagiert Unternehmen in diesen Tagen daran mitwirken, das Virus zu bekämpfen. Diesen Eindruck hatten offenbar auch Christian Drosten und Sandra Ciesek, als sie Mitte November in ihrem Podcast ausdrücklich die Arbeitswelt fürs »Nachjustieren« empfahlen. Die Politik solle eine klare »Homeoffice­Maxime« ausgeben, so die Virologen. Doch von der folgenden Bund-Länder-Runde ging lediglich ein lahmer Appell an die Arbeitgeber.

Bis Ende August hatte das Bundesarbeitsministerium zuvor gebraucht, um wenigstens eine verbindliche »Sars-CoV-2-Arbeitsschutzregel« zu erlassen. Die Umsetzung bleibt dabei faktisch der Freiwilligkeit überlassen. Zwar dürfte die Mehrzahl der Betriebe Maßnahmen ergriffen haben, doch während die Ordnungsämter in Parks und Geschäften die Einhaltung des Abstandsgebots kontrollieren, hört man nichts davon, dass Behörden in Callcentern oder Werkhallen die Umsetzung der Corona-Regeln überprüft hätten.

Für effektive Kontrollen fehlen schon die Ressourcen. Im Juni ergab eine Kleine Anfrage der linken Bundestagsabgeordneten Jutta Krellmann, dass sich die Anzahl der Betriebsbesichtigungen in den zehn Jahren bis 2018 halbiert hatte. Kontrollen finden inzwischen durchschnittlich nicht mehr alle 11,8 Jahre, wie noch 2008, sondern alle 25 Jahre statt. Der Grund: Personalabbau. Doch wer keine Kontrollen durchführt, überlässt den Arbeitsschutz letztlich den Unternehmen.

Die Krise eröffnet aber auch eine Chance: »Corona ist ein Weckruf«, meint Krellmann. »Die Bundesregierung muss beim Arbeitsschutz endlich zu Potte kommen.« Zum Beispiel mit einer verpflichtenden Arbeitsschutzerklärung: »Arbeitgeber müssen den Aufsichtsbehörden wie bei der Steuererklärung regelmäßig mitteilen, was sie für den Arbeitsschutz tun. Dadurch hätten die Arbeitsschutzkontrolleure endlich Anhaltspunkte, wo sie genauer hinschauen müssen.« Ihrer Meinung nach sollten Unternehmen in der Pandemie überhaupt erst dann öffnen dürfen, wenn sie die Arbeitsschutzstandards erfüllen.

Durch die anhaltend hohen Corona-Infektionen wird in der Bundesrepublik nun über einen harten Lockdown diskutiert. Doch selbst wenn die verbreiteten Betriebsferien über die Feiertage einen Einfluss darauf hätten, dass die Zahlen sinken, ist zu befürchten: Nach jetzigem Stand der Debatte wird das vor allem der Schließung von Schulen und Kitas zugeschrieben werden.

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