Kernfamilie zuerst

Die Kontaktbeschränkungen sollten keinen Lebensentwurf privilegieren, finden Vanessa Fischer und Ulrike Wagener.

  • Vanessa Fischer und Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.

Vater, Mutter, Kind, die an Heiligabend mit Oma und Opa eine Gans verspeisen. Am zweiten Feiertag kommen dann die Schwiegereltern zu Besuch und zusammen mit Tante und Onkel wird am Tannenbaum »O du fröhliche« gesungen ... So oder so ähnlich haben sich Bundeskanzlerin Merkel und die Regierungschef*innen wohl die Festtage vorgestellt, als sie am Sonntag die neuen Kontaktbeschränkungen beschlossen: Ab Mittwoch geht Deutschland in einen »harten« Lockdown. Bis mindestens 10. Januar 2021 dürfen sich dann maximal fünf Personen aus zwei Haushalten treffen. Für die Weihnachtsfeiertage wird diese Regelung jedoch gelockert: Vom 24. bis 26. Dezember dürfen vier weitere Personen aus dem »engsten Familienkreis« dazukommen.

Vor dem Hintergrund weiter ansteigender Infektionszahlen wirkt das nicht nur verantwortungslos. Es zeigt auch, welcher Lebensentwurf hierzulande am meisten zählt, und für wen in der Krise entschieden wird: Die christliche Kernfamilie hat Konjunktur. Für sie wird (mal wieder) Politik gemacht, für sie werden letztlich Menschenleben riskiert.

Dass in Deutschland aber gar nicht so wenige Menschen leben, die Weihnachten nicht feiern - etwa weil sie muslimisch sind oder jüdisch -, wird ignoriert. Besonders doppelzüngig ist das, weil dazu oft ausgerechnet jene »arabischen Großfamilien« gehören, denen noch im Sommer vorgeworfen wurde, die Pandemie durch »Familienfeste« voranzutreiben. Und selbst unter denen, die Weihnachten feiern, wollen das längst nicht alle mit »vier weiteren Personen aus dem engsten Familienkreis« tun: Für viele sind Wahlverwandte und Freund*innen ihr engster Kreis. Auch für sie muss es möglich sein, die Feiertage mit geliebten Menschen zu verbringen.

Natürlich ist die Privilegierung der bürgerlichen Kleinfamilie nicht neu und auch kein Zufall: Sie ist bis heute die politische Norm, auch wenn sie sich als Dreh- und Angelpunkt der gesellschaftlichen Ordnung bereits im 19. Jahrhundert etablierte, eng verknüpft mit einer geschlechtsspezifischen Rollenverteilung, die maßgeblich für die Entwicklung des Kapitalismus war. Weiter verschärft wurde die Idee schließlich im Nationalsozialismus, der Familien- und Volkskörper zusammenbrachte. Die Formulierung Verwandte in »gerader Linie« lässt nicht nur vor diesem Hintergrund schauern.

Nachdem die Kleinfamilie in den 50er Jahren in der BRD zunächst weiter gehegt wurde, verlor sie dort ab den späten 60er Jahren zwar wieder an Bedeutung. Die Pandemie scheint überkommen geglaubte gesellschaftliche Strukturen nun aber erneut zu verstärken. Schon im März galt die Devise »Kernfamilie zuerst«. Und in der Feiertagsdiskussion hatte zuletzt auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) Lockerungen für das »Fest der Familie« für möglich erklärt, bei Silvester als »Fest der Freunde« indessen Zurückhaltung angekündigt. Die vermeintliche Übereinstimmung von Familie und Gesellschaft nennt die Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz »Familismus«. Der familiäre Bereich werde demnach als Quelle für soziale Kontakte überbewertet und alle Menschen ausgeschlossen, die nicht zu einer (biologischen) Familie gehören.

Immerhin: Die LGBTI-Organisationen von Linken und Grünen haben die Weihnachtsausnahmen bereits kritisiert: Dass sich drei befreundete Singles an Weihnachten nicht treffen dürften, fünf miteinander verwandte Personen hingegen schon, habe laut DieLinke.queer mit epidemiologischen Erkenntnissen nichts zu tun. »Ein Rückfall in die muffigen 50er Jahre stellt keinen Schutz vor Sars-CoV-2 dar.« Dass es auch anders geht, macht indes die rot-rot-grün regierte Hauptstadt vor: Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) kündigte an, »queerer und Singlerealität« zu Weihnachten Rechnung zu tragen. Vom 24. bis 26. Dezember dürften sich fünf Menschen aus bis zu fünf Haushalten begegnen, auch wenn sie nicht miteinander verwandt sind. In anderen Staaten gibt es längst Kontaktregeln, die Lebensrealitäten abseits von »Mutter, Vater, Kind« berücksichtigen: So riet etwa das niederländische Gesundheitsinstitut Singles zu Beginn der Pandemie dazu, sich eine feste Person für Kuscheln oder Sex zu suchen. In Großbritannien wurde schon früh nicht von »Familien« gesprochen, sondern von Unterstützer-Bubbles. Auch in Deutschland wäre es längst Zeit für eine Regelung, die für Weihnachten und darüber hinaus nicht nur die christliche Kernfamilie im Blick hat: Immerhin ist es schon bald 2021.

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