nd-aktuell.de / 17.12.2020 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 15

Unaufgeregt, pragmatisch, radikal

Nachruf auf den Aktivisten Christian Krähling, der das Gesicht des Widerstands bei Amazon war

Jörn Boewe

Christian Krähling, Beschäftigter und Betriebsrat bei Amazon in Bad Hersfeld, Gewerkschafter und Streikaktivist der ersten Stunde, ist am 10. Dezember gestorben, an seinem 43. Geburtstag. Soweit bislang bekannt ist, starb er eines natürlichen Todes. Für alle, die ihn kannten, war das ein Schock, niemand hatte damit gerechnet. Wie soll es jetzt ohne ihn weitergehen mit der nun schon seit 2013 andauernden Streikbewegung bei Amazon? Man konnte die Beklommenheit förmlich spüren, die sich bei vielen seiner Mitstreiter und Mitstreiterinnen breitmachte. Noch in der Woche zuvor hatte Krähling den jüngsten Streik in den beiden Bad Hersfelder Amazon-Lagern mitorganisiert.

Wer war Christian Krähling? Geboren am 10. Dezember 1977 im nordhessischen Fritzlar, leistete er nach dem Abitur am Gymnasium in Homberg/Efze zunächst Wehrdienst bei der Bundeswehr. Er studierte Wirtschafts- und Politikwissenschaft in Kassel, Marburg und Heidelberg. Aus finanziellen Gründen brach er das Studium ab und heuerte 2009 als Lagerarbeiter bei Amazon in Bad Hersfeld an. Krähling lebte im 50 Kilometer entfernten Borken, war geschieden und Vater zweier Töchter im Alter von sieben und elf Jahren. 2010 beschloss der Verdi-Landesbezirk Hessen, eine zweijährige Organisierungskampagne bei Amazon in Bad Hersfeld zu starten. Es gab nur eine Handvoll Gewerkschaftsmitglieder unter den rund 3000 Beschäftigten. Christian gehörte zur kleinen Gruppe von Aktiven, mit denen die beiden Verdi-Organizer anfingen, Schritt für Schritt eine Basis in den beiden Versandlagern aufzubauen. Drei Jahre später hatten sich fast tausend Beschäftigte der Gewerkschaft angeschlossen. Als sie am 9. Mai 2013 als erste Amazon-Belegschaft weltweit in den Streik traten, war Christian Krähling vorne mit dabei.

Christian Krähling
Christian Krähling

Christian Krähling war »das Gesicht des Widerstands bei Amazon« in Deutschland, wie die jour-fixe-Initiative der Hamburger Gewerkschaftslinken auf ihrer Internetseite schreibt. Er war ein Organisator und Anführer, obwohl er sich selbst wohl kaum so bezeichnet hätte. Profilierungsdrang war ihm völlig fremd, er drängelte sich nicht nach vorn, scheute sich aber nicht, Verantwortung und Initiative zu übernehmen.

Der italienische Marxist Antonio Gramsci hat den Begriff des »organischen Intellektuellen der Arbeiterklasse« geprägt, eine Wendung, die heute mitunter abgedroschen oder bemüht klingt. Aber Christian Krähling war genau das, ein organischer Intellektueller im besten Sinne. Er wusste um den Wert von Organisation, aber engstirniges Organisationsdenken war ihm fremd. Die Organisation war für ihn Werkzeug zur Emanzipation der arbeitenden Klasse, aber kein Selbstzweck und schon gar keine heilige Kirche. Als die Bundesspitze seines Verdi-Fachbereichs bei einer Kundgebung in Berlin ein Problem damit hatte, dass Delegierte einer polnischen anarchosyndikalistischen Gewerkschaft sprechen wollten, nahm Krähling sie mit auf die Bühne und teilte mit ihnen seine Redezeit. Die polnischen Kolleginnen und Kollegen waren für ihn Teil derselben Bewegung, die Dinge anders zu betrachten war für ihn ideologische Haarspalterei.

So war es für ihn normal, sich für den Aufbau eines internationalen Basisnetzwerkes von gewerkschaftlichen Aktiven, der Amazon Workers International, zu engagieren, das unabhängig von den etablierten internationalen Gewerkschaftsbünden arbeitet. Zugleich war Krähling aber auch kein dogmatischen »Graswurzelaktivist«. Großgewerkschaften, Parteien wie die Linke, für die er 2018 zur hessischen Landtagswahl antrat, und die Internationale der Dienstleistungsgewerkschaften, Uni Global Union, waren für ihn unverzichtbar. Beide Ansätze standen für ihn nicht in einem unauflösbaren Widerspruch, sondern waren unterschiedliche Momente derselben Bewegung. Dieser unaufgeregt pragmatische Radikalismus macht Christian Krähling zu einer Ausnahmepersönlichkeit in der Gewerkschaftslandschaft und Linken. Sein Tod reißt eine Lücke, die nicht leicht zu schließen sein wird. Seine vielfältige Aktivität, seine Arbeit über all die Jahre, gibt jedoch Hoffnung, dass seine Haltung ein Beispiel für andere war und auch in Zukunft sein kann.