nd-aktuell.de / 17.12.2020 / Kultur / Seite 8

Gitter und Götterfunken

In «Beethoven und das Glück» hat Friedrich Dieckmann sieben glänzende Essays versammelt

Hans-Dieter Schütt

Die Fronten scheinen klar. Hüben die Guten, Leonore und Florestan, drüben der Schurke Pizarro. Dazu edle Gefangene und ein hochherziger Minister. Zwischen ihnen im Knast von Sevilla: Kerkermeister Rocco, der dort, wo er Liebe sagt, Gold meint. Ein Handlanger der Macht, der sich aber widersetzt, wo diese ihn zum Mörder machen will. «Fidelio», Beethovens «Befreiungs- und Rettungsoper» von 1814, ist beseelt vom Nachhall der Französischen Revolution. Das Meisterwerk, das ein nahezu unglaubliches Gleichnis erzählt - inspiriert von der angeblich wahren Geschichte einer Frau, die ihren Gatten aus einem Kerker der Jakobiner befreite. Die Frau, als Mann getarnt? Mit vorgetäuschter Männlichkeit ein patriarchalisches System blamieren? Augenzwinkernde Verkleidungskomödien sehen wahrlich anders aus.

«Sevilla ist überall», schreibt Friedrich Dieckmann, findet bei einem Prager Gelehrten den Lageplan eines alten Staatsgefängnisses, taucht ein ins Leben des tschechischen Freundes - es ist Eduard Goldstücker, der Kafka-Forscher, den immer wieder Tyrannei, zuletzt die des demokratieunwilligen Sozialismus, in die zynischste Reisefreiheit der Moderne trieb: in das Exil. Die Oper «Fidelio» als akute Allegorie.

Sieben Essays über den Komponisten hat Dieckmann in seinem Buch «Beethoven und das Glück» versammelt. Das Dramatische, das Versöhnende; E-Dur und c-Moll: Die Kraft des Genies reißt uns ins Höhere, aber ebenso lässt sie das Gemüt hart aufschlagen. Was ins Helle zielt, es bleibt doch auch: Finsternis, auf vielen Wegen. Dieckmann schreibt über Kunst und erzählt Geschichtsläufe. Zurichtungen des Menschen im Räderwerk von Staat und Filz. Als seien Peter Weiss’ «Inferno»-Gesänge nicht weit. Als rege sich Heiner Müllers «Engel der Verzweiflung», der fliegt auf nichts mehr herein, das noch mit Hoffnung handeln will. Gewaltig wird in Musik ein Status zersprengt. Aber die Welt wird nicht automatisch gut. Wie oft muss das Gute selber böse werden, um sich zu behaupten. Unterm Strahl der Götterfunken: immer wieder Gitter. Sie senken sich regelmäßig vor die Zukunft. Aus Metall können sie sein, aus Angst, aus Verblendung, gar Hass. Aber letztlich, so Dieckmann: Was bei Beethoven «Klang wird, ist eine Willensmusik, wie sie es niemals vorher gegeben hat.»

Wie der Essay über «Fidelio» zielen auch die anderen Texte ins Freie. Dieckmanns Sprache ist werdendes Denken. Da geht ein Wissender als Suchender durchs Werk. Gustave Flaubert sprach von der «education sentimentale»: Erziehung durch Gefühls-, also Herzensbildung. Diesem Ziel gibt Dieckmann seinen Geist. Untermalt mit Momenten aus Beethovens «5. Sinfonie op. 67», der «Schicksalssinfonie», wurzelt darin eine entscheidende Frage: Wie wird man schuldig? Wie sind die Anteile von Selbstversagen und dem, was wir Fügung, Zufall nennen? Wie kommt Unglück über uns? Sind wir fähig, das eigene Schicksal zu bestimmen? Sinn und Sehnsucht in Zwangslagen.

Der Feingeist Dieckmann ist so sehr von Ausdrucksgabe und Sinntiefe genährt, dass jenes geläufige Wort, mit dem wir so selbstverständlich unsere Beziehung zur Musik benennen, seine Paradoxie gestehen muss: Ein Zuhören nämlich ist das nicht, was in Dieckmanns Aufsätzen geschieht. Es ist ein Aufhorchen, ist Offenheit. Das hervordrängend Enzyklopädische geht eine Bindung ein mit geschliffenster, hageldicht differenzierender Sprache. Das hebt an, das hebt sich ab, ist hochdiszipliniert - ein kräftespendender Kampf; du liest und unterliegst gern, gewinnend. Wer Dieckmann liest, erlebt Freiheit gegenüber jeder Nicht-Form herrschenden Sprachgebrauchs.

Der Dichter Robert Walser hielt Genauigkeit für poetisch. Dieckmann ist genau. Im Bedenken des andauernd dialektischen Glücks im Unglück und des Unglücks im Glück. Untrennbares, das «mich in eignem Widersinne stärkt», wie er in einem Gedicht schrieb. «Trägt die Musikgestalt Pizarro nicht alle Züge des Pharao, Herodes, Gessler, ja eben des gnostischen Satan, der uns in den Weltkerker brachte und festhält? Welch ungeheure Gründe klingen erst im Trompetensignal mit?

Dies Signal ist ein Morgenrot, dessen Tag noch nicht gekommen ist. Das schrieb Ernst Bloch. Dieckmann knüpft an: Beethovens Musik ist »Ermächtigung des Einzelnen gegenüber der Konvention«. Der Komponist selber gab im Kleinen das Beispiel für das Große. Als ihm und Goethe, beim Spaziergang im böhmischen Kurort Teplitz, der kaiserliche Hofstaat entgegenkam, so berichtete Bettina von Arnim, da habe sich Goethe höflich an den Rand gestellt und den Hut gezogen. Beethoven sei mitten hindurchgegangen und habe Goethe danach getadelt, dem Adel »zu viel Ehre angetan« zu haben.

Zu den Essays gehören zwei Zeichnungen von Strawalde. Die Farbe Schwarzweiß schafft Leuchtbilder des Aufgewühltseins. Striche träumen Flächen; Flächen gehen mit der Linie zum Tanz. Poesie, in der ein Traum stets das Trauma mitfühlt: jene harte Realität, die (überall und immer!) so ganz anders ist, als es die Musik uns erzählt. Weswegen sie so unentbehrlich ist: Kunst ist, was Welt werden will. Einleuchtend, dass Beethovens »9. Sinfonie« und »Für Elise« zu den »Voyager Golden Records« gehören, die für etwa 500 Millionen Jahre im All kreisen, um möglichen Außerirdischen davon zu künden, dass es Menschen gab.

Friedrich Dieckmann: Beethoven und das Glück. Mit Zeichnungen von Strawalde. Hrsg. v. Jens-Fietje Dwars. Edition Ornament bei Quartus, 127 S., br., 18,50 €.