nd-aktuell.de / 24.12.2020 / Politik / Seite 6

Besser ist nicht gut genug

Während der Corona-Pandemie steht Jens Spahn im Rampenlicht. Pflegekräfte sehen bei ihm gute Ansätze, aber auch viel Symbolpolitik

Inga Dreyer

Durch die Corona-Pandemie ist die angespannte Situation für viele Pflegekräfte noch schwieriger geworden. »Man hat das Gefühl, man kann seinen Job gar nicht mehr richtig machen«, sagt Julia Hertwig, Gesundheits- und Krankenpflegerin am Jüdischen Krankenhaus in Berlin und aktiv beim Berliner Bündnis Gesundheit statt Profite. Besonders anstrengend sei die Arbeit für die Kolleg*innen auf Covid-19-Stationen. »Wenn man eingemummt in einem Patientenzimmer steht, ist das sehr anstrengend. Man schwitzt viel, aber draußen ist es kalt. Das ist körperlich wie psychisch eine starke Belastung.«

In der ersten Welle der Pandemie schwappte die Diskussion über Pflege in Deutschland in die Öffentlichkeit - ein Thema, das sich Gesundheitsminister Jens Spahn schon bei seinem Amtsantritt im März 2018 auf die Fahnen schrieb. Wie sieht es aus, nach fast zwei Jahren Amtszeit des CDU-Politikers und beinahe einem Jahr Pandemie? Wie bewerten Menschen aus der Praxis das, was von seiner Politik erfahrbar wird?

»Positiv muss ich sagen, dass Herr Spahn der erste ist, der Pflege in die Öffentlichkeit bringt und angefangen hat, etwas zu tun. Anfangs dachte ich: Er packt’s jetzt an«, sagt Gabi Heise. Die Berliner Krankenpflegerin ist Betriebsrätin bei Vivantes und auch beim Bündnis Gesundheit statt Profite engagiert.

Hoffnung hatte auch Annette Stein, Altenpflegerin aus Konstanz, die ihren echten Namen nicht nennen will, um Konflikte mit ihrem Arbeitgeber zu vermeiden. »Wir hatten schon das Gefühl, dass es mit diesem relativ junger Politiker mehr Aufmerksamkeit für die Altenpflege geben könnte.«

Skeptisch sei sie wegen seiner Nähe zur Pharmabranche gewesen, erzählt Julia Hertwig. 2006 bis 2010 hielt Spahn Anteile an einer Lobbyfirma, die Kunden aus dem Medizin- und Pharmasektor beriet. Auch Matthias Marschner beobachtete die ersten Schritte des neuen Gesundheitsministers kritisch. Der Internist arbeitet am Sankt-Gertrauden-Krankenhaus in Berlin-Wilmersdorf und engagiert sich in der Ärztekammer sowie bei der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit. »Mein erster Eindruck war, dass Spahn ein falsches Spiel spielt«, erzählt Marschner. Denn der Minister habe sich sowohl bei den Pflegekräften als auch bei den Ärzt*innen als Erneuerer präsentiert. »Man kann nicht allen Berufsgruppen auf dem Rücken der anderen Ähnliches versprechen.«

Im Koalitionsvertrag entdeckte Valentin Herfurth einige zuversichtlich stimmende Ankündigungen. »Gleichzeitig habe ich von Anfang an auch das Gefühl gehabt, dass Spahn häufig Symbolpolitik betreibt, die Probleme aber eigentlich nicht wirklich gelöst werden«, sagt der 25-jährige Gesundheits- und Krankenpfleger, der bei den DRK-Kliniken in Berlin arbeitet und im Bündnis Walk of Care aktiv ist, das sich mit politischen und kulturellen Aktionen für einen Wandel im Pflege- und Gesundheitssystem einsetzt.

Im Zuge des Gesetzes zur Stärkung des Pflegepersonals (PpSG) wurde Anfang 2019 ein Sofortprogramm für 13 000 neue Pflegekräfte in stationären Pflegeeinrichtungen aufgesetzt. »Das ist natürlich nicht nichts«, sagt Herfurth. »Aber in den Heimen fehlen 120 000 Stellen. Man sollte dazu sagen, dass die neuen Stellen nur ein Anfang sein können.«

Mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz wurden auch Pflegepersonaluntergrenzen in bestimmten Krankenhausbereichen - wie der Intensivmedizin und der Unfallchirurgie - eingeführt. Die Idee dahinter sei nicht schlecht. »Aber die Methodik zur Ermittlung der Untergrenzen ist eine Katastrophe«, kritisiert Herfurth. Ein Problem sei, dass die Bemessung zu niedrig angesetzt sei. Die 25 am schlechtesten besetzten Prozent der Stationen sollen sich demnach an den besseren orientieren. Aber besser sei eben noch nicht gut, sagt Herfurth.

Gabi Heise bezeichnet das Instrument als »Pseudo-Aktivismus«. In der Praxis werde teilweise mit Hinweis auf die neuen Untergrenzen Personal abgezogen - nach dem Motto: Das Mindestmaß reiche aus. »Und sobald die Coronakrise anfing, war das erste, was Spahn einfiel: Setzen wir doch mal die Personaluntergrenzen aus.«

Initiativen wie Walk of Care oder das Berliner Bündnis Gesundheit statt Profite fordern statt Untergrenzen eine Personalbemessung, die sich am realen Pflegebedarf orientiert. Nur so könne man Patient*innen angemessen betreuen, betont Julia Hartwig.

Positiv bewertet sie, dass die Pflegekosten bei Krankenhäusern seit 2020 aus den sogenannten diagnosebezogenen Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) herausgerechnet werden. Das bedeutet: Pflegepersonalkosten werden nun individuell pro Krankenhaus vergütet. Es soll keinen Anreiz mehr geben, am Pflegepersonal zu sparen. Für Valentin Herfurth ist das ein guter Schritt - in dem er eher die Handschrift von Karl Lauterbach und dessen SPD zu erkennen meint als die von Jens Spahn. Eine Gefahr sieht Herfurth allerdings darin, dass nun an anderer Stelle gespart werden könnte. »So wie ich die Verhandlungen mitbekomme, sagen die Krankenkassen: Gut, dann bekommt ihr mehr Pflegekräfte, aber wir ziehen das von den Servicekräften ab. Dann hat man halt niemanden mehr, der Essen verteilt.«

Das Bündnis Gesundheit statt Profite und Walk of Care fordern eine Kehrtwende: Kliniken sollen überhaupt keine Gewinne mehr machen müssen. »Es fehlt Jens Spahn einfach der Mut, dass er das angeht«, urteilt Gabi Heise. »Er ist derjenige, der das anstoßen müsste. Dass er nicht allmächtig ist, weiß ich auch. Aber er stupst ja nicht mal die Diskussion über eine andere Finanzierung an.«

Eine weitere Forderung der »gibuns5«-Kampagne des Walk of Care ist, dass in den Gremien der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens neben Ärzt*innen auch Vertreter*innen Pflegender, anderer Gesundheitsberufe und Patient*innen vertreten sein sollten, sagt Lea Friedrich, Gesundheits- und Krankenpflegerin bei den DRK-Kliniken in Berlin. Als junges Bündnis fühle sich Walk of Care von der Politik durchaus ernst genommen, sagt sie. »Wir haben Jens Spahn schon öfter getroffen und ich habe ihn als gesprächsbereit erlebt. Es ist gut, dass er ein paar Schritte macht. Aber es geht uns nicht nur um den einen Mann ganz vorne, der Entscheidungen trifft, sondern um eine grundlegende Veränderung.«

Seit der Pandemie steht der Bundesminister noch stärker im Rampenlicht. Im Frühjahr ging es vor allem um fehlende Materialien. »Zu Beginn des Jahres war es sehr schlimm. Es gab Lieferengpässe von Schutzmaterialien, aber auch von Antibiotika«, berichtet Julia Hertwig. »Jeder ist auf rohen Eiern gelaufen. Man wusste ja noch nicht, was dieses Virus ist und wie es sich auswirkt.« Im April und Mai sei es besser geworden. Aber auch im Herbst seien noch Rundschreiben gekommen - zum Beispiel, dass nicht unnötig Spritzen verbraucht werden sollen. »Das ist in so einem Wohlstandsland wie bei uns eigentlich unglaublich«, sagt die Krankenpflegerin.

Ob es bei ihr im Altenheim und in der ambulanten Pflege genug Masken gab? Annette Stein lacht. Lange habe es nur die chirurgischen Gesichtsmasken gegeben, die nicht als Schutz der Träger*innen vorgesehen sind. »Dass wir nicht wichtig sind, das kennen wir ja schon zur Genüge«, sagt die Altenpflegerin. Aber sie hätte sich gewünscht, dass mehr auf die alten Menschen achtgegeben werde - zum Beispiel durch regelmäßige Corona-Tests bei den Mitarbeitenden. Erst jetzt, im Winter sei es möglich, regelmäßig Schnelltests durchzuführen.

»Bei uns sind FFP2-Masken und Desinfektionsmittel immer noch verschlossen«, erzählt Matthias Marschner. Weil im Frühjahr im Krankenhaus Desinfektionsflaschen aus den Spendern geklaut wurden, seien kleine Fläschchen für die Tasche verteilt worden. Als das handelsübliche Desinfektionsmittel ausgegangen war, gab es nur noch »irgendwo Zusammengebrautes«, von dem abends die Hände brannten.

»Jetzt in der zweiten Welle ist es besser«, sagt Gabi Heise. Jens Spahn habe sich schnell gekümmert - auch wenn die Mitarbeitenden in den Krankenhäusern derzeit häufig unsicher seien, wie sicher die gelieferten Materialien tatsächlich seien. Kann man der Politik einen Vorwurf wegen der Materialknappheit machen? Valentin Herfurth ist sich unsicher. »Mit einer Pandemie hat einfach niemand von uns gerechnet«, sagt er. Er kritisiert hingegen, dass die Krise bisher nicht zum Anlass für grundlegende Veränderungen genommen worden sei.

»Ich habe das Gefühl, man ruht sich auf den Pflegepersonaluntergrenzen aus und das war es dann«, sagt auch Julia Hertwig. Der Frust beim Pflegepersonal sei in der zweiten Welle noch höher als in der ersten. »Dadurch, dass es schon so lange geht, können die Leute einfach nicht mehr.«

Über die Anerkennung seitens der Politik und Applaus hat sich Annette Stein in der ersten Welle gefreut. »Ich fand das großartig«, sagt die Altenpflegerin. Konkrete politische Auswirkungen aber spüre sie nicht. Überhaupt bemerke sie seit Amtsantritt des Ministers keine Verbesserungen in ihrem persönlichen Arbeitsalltag. Die Aufgabenbereiche würden noch größer, Überlastungsanzeigen landeten häufig im Papierkorb. Worum Spahn sich kümmere, sei die Anwerbung ausländischer Pflegekräfte. Annette Stein berichtet von großartigen, neuen Kolleg*innen - vor allem aus afrikanischen Ländern. Das Ziel sollte aber sein, den Beruf auch für Deutsche wieder attraktiv zu machen, sagt sie. Ein Ziel der im Juli 2018 von Jens Spahn, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Familienministerin Franziska Giffey (SPD) ins Leben gerufenen Konzertierten Aktion Pflege ist, die Entlohnung in der Altenpflege zu verbessern. Das könne entweder über einen Tarifvertrag oder durch die Festsetzung von Mindestlöhnen geschehen. »Tarifverträge wären toll«, sagt Annette Stein.

In der Altenpflege soll auch das Ende November vom Bundestag verabschiedete Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG) zu Verbesserungen führen. In der vollstationären Altenpflege sollen 20 000 zusätzliche Stellen für Pflegehilfskräfte finanziert werden - ohne, dass der Eigenanteil der Pflegebedürftigen steigt. Für Valentin Herfurth ein guter Ansatz. »Pflegebedürftigkeit ist in Deutschland immer noch ein Armutsrisiko«, sagt er. Laut Ministerium sind die zusätzlichen Stellen ein erster Schritt zur Umsetzung eines Personalbemessungsverfahrens für vollstationäre Pflegeeinrichtungen.

Veränderungen gibt es auch in der Ausbildung, wie schon im Jahr 2017 mit dem Gesetz zur Reform der Pflegeberufe beschlossen wurde. Seit 2020 lernen Auszubildende in der Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflege in einer generalistischen Ausbildung zwei Jahre gemeinsam. Kritiker*innen fürchten, dass das zulasten der Altenpflege gehen könne, weil sich die Fachkräfte dann eher für besser bezahlte Krankenhausjobs entscheiden könnten. Lea Friedrich aber hofft, dass die Heime dadurch unter Druck geraten und Löhne anheben werden.

Die Wirkungen der neuen Gesetze und Reformen werden sich zeigen. Wie die Bilanz des Ministers nach der Corona-Pandemie aussehen wird? Seinem Eindruck nach nutze Spahn das Amt, um seine Eignung als Kanzlerkandidat unter Beweis zu stellen, sagt Matthias Marschner. Ob Spahn noch ins Rennen geht, scheint derzeit ungewiss. Im Wettbewerb um den Bundesvorsitz der CDU unterstützt er den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet, der beim Parteitag im Januar gegen den Außenpolitiker Norbert Röttgen und den früheren Unionsfraktionschef Friedrich Merz antritt. Die Frage, wer Kanzlerkandidat wird, dürfte erst zu einem späteren Zeitpunkt entschieden werden. Und ob sich die Situation der Pflege durch Spahns politisches Wirken verbessern wird? Annette Stein reagiert zögerlich: »Er redet viel. Das tut er immerhin. Wir sind ein Gesprächsthema.«