nd-aktuell.de / 28.12.2020 / Sport / Seite 15

Geiger träumt im Winterwunderland

Springen vor 350 Pappkameraden in Oberstdorf: Die 69. Vierschanzentournee wird speziell

Lars Becker, Oberstdorf

11:20 Uhr verschwand Karl Geiger am Sonntag in dem weißen Plastikzelt der Corona-Teststation in der tiefverschneiten Oberstdorfer Alpgaustraße. Kurze Zeit später kam der frischgebackene Skiflug-Weltmeister wieder heraus und fuhr nach einem kurzen Plausch mit Deutschlands Skiverbandschef Franz Steinle auf dem Parkplatz mit seinem Auto ab in Richtung Teamhotel. Noch am Sonntagabend oder spätestens Montagfrüh sollte der offiziell aus der Corona-Quarantäne entlassene Geiger sein Testergebnis erhalten. Dann dürfte der Oberstdorfer grünes Licht für seinen Start bei der 69. Vierschanzentournee erhalten, die am Montag mit dem Training und der Qualifikation auf seiner Heimschanze beginnt.

»Ich habe nach dem positiven Testergebnis keinerlei Symptome entwickelt, mir ging’s sehr gut. Auch ein erster PCR-Test ist negativ ausgefallen. Ich habe bei der Tournee nichts zu verlieren und werde auf Angriff gehen«, erklärte Geiger in einer Online-Pressekonferenz am Sonntag.

Der 27-jährige Tournee-Mitfavorit wirkt topfit und angriffslustig, auch wenn er Weihnachten daheim in Quarantäne verbringen musste. Immerhin konnte er Ehefrau Franziska und seine erst vor zwei Wochen geborene Tochter Luisa mit Maske und auf Abstand sehen. Springen ging natürlich in den letzten beiden Wochen nach seinem WM-Triumph und dem nachfolgenden positiven Corona-Test nicht, aber Geiger hat sich mit Krafttraining in Form gehalten.

»Die Situation ist die gleiche wie vor der Skiflug-WM - da war Karl auch zehn Tage weg und hat dann gewonnen. Aus der Favoritenrolle für die Tournee ist er erstmal raus, aber Karl ist alles zuzutrauen«, sagt Bundestrainer Stefan Horngacher: »Er ist extrem froh, dass er wieder dabei ist, er ist extrem froh, dass er Skiflug-Weltmeister ist und er ist extrem froh, dass sein Kind da ist. Alles, was jetzt kommt, ist Zugabe.« Auch sein bester Kumpel Markus Eisenbichler glaubt, dass der Karl »das Ding wie bei der WM rocken kann.«

Das will allerdings auch der dreimalige Weltmeister Eisenbichler, der sich in der Form seines Lebens fühlt: »Die Vierschanzentournee ist eine Traditionsveranstaltung. Wenn man die Tournee gewinnt, kann man das mit einem Olympia- oder WM-Sieg gleichstellen. Ich hoffe, dass ich sie gewinnen kann.«

Auch der zuletzt zweimal unter die Top 5 im Weltcup geflogene Pius Paschke will vorn mitmischen. Stefan Horngacher hat jedenfalls das klare Ziel ausgegeben, 19 Jahre nach dem Triumph von Sven Hannawald, endlich den Tournee-Gesamtsieg wieder nach Deutschland zu holen: »Ich hoffe, dass in unserem Top-Trio eine Gruppendynamik entsteht und einer durchzieht. Warum sollte nicht einmal ein deutscher Skispringer über allen stehen?«

Vielleicht hilft Geiger, Eisenbichler und Co. im Kampf gegen den in den letzten fünf Weltcups siegreichen Norweger Halvor Egner Granerud ja, dass die 69. Vierschanzentournee als die erste in der Geschichte ohne Zuschauer über die Bühne gehen wird. Damit ist der öffentliche Erwartungsdruck nicht so spürbar. Im vergangenen Winter hatten in Qualifikation und Wettbewerb noch etwa 40 000 Zuschauer schwarz-rot-goldene Fähnchen geschwenkt, dieses Mal stehen lediglich 350 Foto-Pappfiguren von Fans in der Arena am Schattenberg.

Markus Eisenbichler mit seinen zwei Weltcuperfolgen und Karl Geiger mit seinem WM-Titel haben in diesem Winter schon bewiesen, dass sie in dieser Geisterstimmung siegen können. »Natürlich pushen Zuschauer. Aber mir kommt die Ruhe eher entgegen. Da kann ich meinen Stiefel besser durchziehen. Und dann begeistern wir eben die Fernsehzuschauer«, sagt Markus Eisenbichler.

Fast alles ist in diesem Winter bei der Vierschanzentournee anders als sonst. Statt auf dem Marktplatz vor Tausenden Fans wurden alle Teilnehmer im Corona-Testzelt »begrüßt«. Die sonst vor dem Vierschanzentournee-Auftakt von Tausenden Zuschauern und Silvester-Urlaubern überlaufene Marktgemeinde Oberstdorf wirkt in diesen Tagen wie ausgestorben. Nur Einheimische genießen die wunderbare Winterstimmung im tief verschneiten Allgäu: dort, wo Karl Geiger daheim ist und nach überstandener Corona-Quarantäne vom Gesamtsieg träumt, den die Fans deutscher Springer seit Sven Hannawald 2002 schon lange herbeisehnen.