nd-aktuell.de / 31.12.2020 / Berlin / Seite 9

Die vielen Gesichter der Maskenfeinde

2020 war das Jahr der Corona-Leugner, Schwerpunkt der Proteste war Berlin. Doch wie geht es weiter mit »Querdenken«?

Philip Blees

In Berlin bleiben Demonstrationen an Silvester und Neujahr verboten. Das für die beiden Tage geltende Versammlungsverbot sei rechtlich nicht zu beanstanden, teilte das Verwaltungsgericht Berlin am Mittwoch mit und wies einen Eilantrag gegen das nach der Infektionsschutzverordnung des Senats geltende Demonstrationsverbot zurück. Der Antragsteller hatte selbst eine Versammlung für Silvester angemeldet. Dabei ging es aber nicht um die »Querdenken«-Demonstration, die ursprünglich ebenfalls für Silvester angemeldet worden war. Die Organisatoren hatten sie nach Bekanntwerden des Versammlungsverbots auf den 30. Dezember vorverlegt. Die Polizei hatte die Demonstration anschließend verboten, »Querdenken«-Initiator Michael Ballweg rief daraufhin dazu auf, sich an das Verbot zu halten.

So einsichtig war die dominierende rechte Bewegung dieses Jahres selten. Ob sich die »Querdenker« an das Verbot halten, wird sich zeigen, bisher scherten sie sich wenig um geltendes Recht. Das zeigen nicht zuletzt die mehr als 1000 Verfahren, die bei der neu eingerichteten Ermittlungsgruppe »EG Quer« beim LKA im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen laufen. Eins steht jedoch fest: So lange die Pandemie andauert, wird es die krude Mischung aus Esoteriker*innen, Verschwörungsideolog*innen und Rechtsradikalen weiter auf die Straßen der Hauptstadt treiben.

»Berlin war definitiv ein Schwerpunkt«, sagt Oliver Gaida, Vorsitzender des Fachausschusses »Strategien gegen Rechts« der Berliner SPD, bei einer Veranstaltung des Institut Solidarische Moderne. Er macht drei Phasen der Bewegung aus: Die Initiierung im Frühjahr durch ein diffuses Spektrum an Einzelpersonen und kleiner Gruppierungen, die Mobilisierung im Sommer mit großen Demonstrationen und schließlich die Organisierung im Spätsommer unter dem Label »Querdenken«. Über all diese Phasen hinweg lässt hat die Bewegung eine Gemeinsamkeit: »Es gibt eine Einheit von Verschwörungstheorie und Antisemitismus«, so Gaida.

Vorläufer und Initiierungsmoment der »Querdenken«-Aktionen sind die im Frühjahr viel diskutierten »Hygiene«-Demos. Auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Mitte kamen Teilnehmer*innen aus verschiedenen Spektren zusammen, um gegen Grundrechtseinschränkungen zu demonstrieren. Unter ihnen Führungspersönlichkeiten der Friedensmahnwachen von 2014 wie beispielsweise der ehemalige RBB-Moderator Ken Jebsen, dem schon länger die Verbreitung antisemitischer Inhalte vorgeworfen wird. Aber auch von Anfang an Rechtsradikale wie der sogenannte Volkslehrer. Als Initiator gilt der frühere Journalist Anselm Lenz, der unter anderem für die »taz« geschrieben hatte. All diese Personen gingen später in der großen Bewegung auf und bedienen darin ihr eigenen Klientel. Geeint werden diese Akteur*innen durch Verschwörungsideologien.

Mit voller Wucht auf die Straße brachten die »mobilisierbaren Deutschen«, wie die linke Gruppe »Eklat« aus Münster die »Corona-Rebellen« beschreibt, ihre Skepsis im Sommer. Mit Techno-Wagen, Hippie-Hose und Reichsfahne zogen einige Zehntausend Rechte durch die Hauptstadt. Über die Teilnehmer*innen-Zahlen wurde viel gestritten. Die Botschaft war jedoch klar: Purer Egoismus statt umfassender Solidarität.

Wer sich bei den Großdemonstrationen im Spätsommer umschaute, dem bot sich ein buntes Bild: Von Vielen wohl als links wahrgenommene Alternative liefen neben strammen Neonazis und der AfD-Spießbürgerin. Wie kann man diesen Eindruck objektiver beschreiben? Ein Versuch ist die Studie des Baseler Soziologen Oliver Nachtwey. Gemeinsam mit seinen Kolleg*innen Nadine Frei und Robert Schäfer hat er die Bewegung der »Querdenker*innen« einer demografischen Untersuchung unterzogen.

Seine Befragung von 1150 Teilnehmer*innen, deren Ergebnisse im Dezember veröffentlicht wurden, hat ergeben, dass es sich bei einem Großteil um ältere Angehörige der Mittelklasse mit einem hohen Akademiker*innen-Anteil handelt. Das Durchschnittsalter beträgt 47 Jahre, 31 Prozent haben Abitur, 34 Prozent einen Studienabschuss, der Anteil Selbstständiger ist deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung. Auch der Anteil von AfD-Wähler*innen ist unter den »Querdenker*innen« überdurchschnittlich hoch: Ganze 27 Prozent wollen bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 ihre Stimme den Rechtspopulist*innen geben. »Es handelt sich im Ganzen um keine genuin rechte Bewegung, aber um eine, die nach rechts offen ist und diesbezüglich große immanente Radikalisierungspotenziale aufweist«, sagt Nachtwey.

Die Radikalisierung der Proteste zeigte sich neben dem »Sturm« auf den Reichstag Ende August besonders deutlich in Leipzig. Anfang November kämpften Hooligans und Neonazis der breiten Masse den Weg auf den von Polizist*innen abgesperrten Leipziger Ring frei. Eine gewisse Arbeitsteilung zwischen Hools und besorgten Bürger*innen wurde sichtbar. In Berlin mehrten sich zudem die ungehorsamen Aktionen von Corona-Leugner*innen, die Flashmobs in Supermärkten und Einkaufszentren - demonstrativ ohne Masken - organisierten und dabei die Mitarbeiter*innen gefährdeten.

Doch wie kommen Zehntausende Menschen zu der verschobenen Weltsicht der »Querdenker*innen«? Antworten könnten das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) geben. Das veröffentlichte Ende Oktober eine Studie zum Zusammenhang von Einkommenseinbußen durch die Corona-Pandemie und Verschwörungsglaube: Die Empfänglichkeit für solche Mythen sei bei erlittenen Verdiensteinbußen um neun Prozent höher. Ob das allein eine Radikalisierung zur Corona-Leugner*in veranlasst, ist fraglich. Auch steht diese Annahme in Widerspruch zu den Ergebnissen von Nachtwey, dass es sich dabei um eine akademische Bewegung handelt.

Seit dem Winter sind bereits erste einigen Auflösungserscheinungen und Spaltungen zu beobachten. Zu den geplanten Silvester-Demonstrationen von »Querdenken« mobilisierten nicht alle Ortsgruppen. Auch stehen verschiedene radikalere Kräfte, darunter auch der bekannte Verschwörer Attila Hildmann, längst nicht mehr geeint hinter der Bewegung. Bei Demonstrationen in Berlin und Brandenburg verringerte sich die Teilnehmer*innenzahl zuletzt beträchtlich. Die Ankündigung von »Querdenken«-Initiator Michael Ballweg, bis Frühjahr keine Demonstrationen mehr anzumelden, könnte damit zusammenhängen. Wie es mit der Bewegung weitergeht, und ob sie sich weiter radikalisiert, wird sich im nächsten Jahr zeigen.