nd-aktuell.de / 06.01.2021 / Politik / Seite 3

Mit Messer, Keule und Schraubenschlüssel

Fast drei Jahre nach einer brutalen Attacke von Neonazis auf Journalisten in Thüringen beginnt nun der Prozess

Reimar Paul

Rein vom Wetter her betrachtet, ist der 29. April 2018 im nordwestthüringischen Landkreis Eichsfeld ein schöner Frühlingstag. Die Sonne scheint, die Temperatur ist bis zum Mittag auf über 20 Grad gestiegen. Raps- und Getreidefelder wiegen sich im Wind, der mit einer Stärke von bis zu fünf Beaufort durch die hügelige Landschaft weht. Radler und Biker haben ihre Räder und Maschinen aus Kellern und Garagen geholt. Sie nutzen den Sonntag für die erste größere Ausfahrt des Jahres.

Für zwei Göttinger Journalisten, die beruflich in der Gegend unterwegs sind, verläuft dieser Tag weniger erfreulich - und er endet im Krankenhaus. Denn in dem Dörfchen Hohengandern, nahe der Landesgrenze zu Niedersachsen gelegen, werden die beiden Opfer eines brutalen Überfalls durch zwei Neonazis. Die rechten Schläger sind bewaffnet und verletzen die Journalisten schwer. Sie beschädigen ihr Fahrzeug und rauben ihre Kameraausrüstung.

Mehr als 15 Monate nach Anklageerhebung beginnt nun am 26. Januar vor dem Landgericht Mühlhausen der Strafprozess gegen die beschuldigten Rechtsextremisten. Die Staatsanwaltschaft wirft den Männern im Alter von 20 und 27 Jahren »gemeinschaftlich begangene Sachbeschädigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und schwerem Raub« vor.

Ausgangspunkt des Überfalls ist das »Gutshaus Hanstein« im Eichsfelddorf Fretterode, gut acht Kilometer vom späteren Tatort Hohengandern entfernt. Der von Mauern und Hecken umfriedete Hof in der Dorfstraße 41 gehört seit dem Jahr 1999 dem Neonazi und NPD-Funktionär Thorsten Heise, seit 2002 bewohnen er und seine Familie auch selbst den wuchtigen Fachwerkbau am Ortsrand.

Heise, Jahrgang 1969, stammt aus Göttingen. Seine politische Karriere startet er in der - längst verbotenen - Freiheitlich-Deutschen Arbeiterpartei (FAP) und der gewaltaffinen »Kameradschaft Northeim«. Der wegen Propaganda- und Gewaltdelikten mehrfach vorbestrafte Rechtsextremist werkelt in der Folge an einem bundesweiten und internationalen Nazi-Netzwerk. Er sitzt im Bundesvorstand der NPD, organisiert vor allem in den östlichen Bundesländern Rechtsrock-Konzerte und betreibt einen Handel für Tonträger mit rechter Musik. Und er stand - oder steht vielleicht auch noch - auf einer Liste des Bundeskriminalamtes »mit nachgewiesenen Kontakten zu Tätern oder Beschuldigten« im NSU-Prozess. Heises Ehefrau Nadine gibt in dem ebenfalls im Fretteroder Gutshaus ansässigen »Nordland Verlag« die rechtsextreme Zeitschrift »Volk in Bewegung« heraus.

Anfang 2006 nutzt Heise eine Lücke in der Thüringer Bauordnung und errichtet auf seinem Hof ein zwischenzeitlich zerstörtes SS-Denkmal neu, das steinerne Mahnmal für die Gefallenen des I. Panzer-Korps der Waffen-SS. 2012 kommt eine Gedenkstätte vom rechtsextremen »Schutzbund für das Deutsche Volk e.V.« dazu. Das Anwesen dient seit Jahren als Anlaufstelle, Treffpunkt und Drehscheibe für Rechtsextremisten aus dem In- und Ausland und deren Aktivitäten.

Wohl um eine Demonstration vorzubereiten, versammeln sich auch an jenem 29. April etliche Neonazis im »Gutshaus Hanstein«. Die beiden Göttinger Journalisten, die seit Jahren in der rechten Szene recherchieren, haben das vorab mitbekommen. Sie wollen dokumentieren, wer bei dem Treffen auftaucht. Von der Straße aus fotografieren sie das Grundstück - und werden dabei offenbar von Rechtsextremisten entdeckt. Denn plötzlich springt ein Mann über die Mauer des Grundstücks. Er rennt auf das Auto der Journalisten zu und einmal darum herum.

Sie hätten den Mann fotografiert, erzählen die Journalisten später, der daraufhin in das Haus zurückgelaufen sei. Kurz darauf räumen die Göttinger das Feld. Ihnen sei die Situation zu brenzlig erschienen. Deshalb seien sie »lieber abgehauen«. Doch sie kommen nicht weit. Am Ortsausgang von Fretterode blockiert den Schilderungen der Reporter zufolge ein schwarzes Auto die Straße, ein BMW. Zwei Männer springen heraus, sie sind mit Tüchern und Sonnenbrillen vermummt, einer hält einen schweren Schraubenschlüssel in der Hand, der andere einen Baseballschläger. Die Journalisten setzen ihr Fahrzeug zurück. Es gelingt ihnen zunächst auch, davonzufahren.

Doch der BMW folgt ihnen. Eine wilde Jagd beginnt. Die Flucht führt über die kurvige Landesstraße 1002, durch das Dorf Gerbershausen - und endet schließlich in Hohengandern, wo die Journalisten ihr Auto in einen Straßengraben setzen. Der Fotograf schafft es gerade noch, die Speicherkarte der Kamera zu verstecken, als die Nazis auch schon heranstürmen. Sie greifen zunächst das Auto der Journalisten und dann mit dem Baseballschläger, dem Schraubenschlüssel sowie einem langen Messer und Pfefferspray die Insassen an.

Die Scheiben des Fahrzeuges werden zerstört, die Reifen zerstochen, Kamera und Kameratasche des Fotografen entwendet. Einer der Angreifer sticht mit dem Messer zu und trifft den Oberschenkel eines Journalisten. Der andere bekommt einen Schlag mit dem Schraubenschlüssel auf den Kopf. Er erleidet einen Bruch des Schädelknochens und eine Kopfplatzwunde. Nach der Attacke ziehen sich die Täter in dem BMW zurück. Anwohner verständigen auf Bitten der erheblich blutenden Reporter den Rettungsdienst und die Polizei. Noch am selben Tag durchsuchen Beamte das Grundstück Heises nach möglichen Beweismitteln. Heise lässt sie »auf freiwilliger Basis gewähren«, teilt die Polizei später mit.

Der Tat dringend verdächtig und später angeklagt werden die Neonazis Gianluca Bruno und Heises ältester Sohn Nordulf. Beide wohnen damals in Fretterode, und beide sind einschlägig bekannt. Bruno gilt als politischer Ziehsohn Thorsten Heises, der ihn seit Jahren innerhalb der NPD fördert und protegiert. Bis zum Sommer 2018 ist Bruno stellvertretender Vorsitzender der NPD in Niedersachsen und Vorsitzender des Göttinger Kreisverbandes. Nach dem Angriff auf die Journalisten verschwindet sein Name aber vom offiziellen Internetauftritt der Partei. Im Januar 2016 hat sich Bruno laut Zeugenaussagen auch an den schweren Ausschreitungen von Neonazis im links geprägten Leipziger Stadtteil Connewitz beteiligt.

Nordulf Heise, der jüngere der Angeklagten, ist schon als 15-Jähriger bei Nazi-Events mit von der Partie. 2016 beteiligt er sich in Duderstadt an Angriffen auf Antifaschisten. Beim von Vater Thorsten organisierten »Schild-und-Schwert«-Festival im sächsischen Ostritz fungiert er als Ordner. Das mehrtägige Event soll der Szene Kampfsport, Musik und Austauschmöglichkeiten bieten.

Wenige Wochen nach dem Angriff auf die Journalisten setzt sich Nordulf Heise nach Recherchen von Antifa-Gruppen und der linken Schweizer »Wochenzeitung« (WOZ) in das Alpenland ab. Er soll bei einem »Blood & Honour«-Sympathisanten im Wallis Unterschlupf und einen Ausbildungsplatz als Heizungsinstallateur gefunden haben. Zum Prozessbeginn am 26. Januar muss Heise Junior in Deutschland sein.

Dass sich die Justiz mit der Zulassung der Anklage und einer Terminierung des Prozesses so lange Zeit gelassen hat, ärgert den Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam. Er vertritt einen der Journalisten, die in dem Verfahren Nebenkläger sind. Nachdem das Landgericht Mühlhausen nach der Anklageerhebung mehr als 15 Monate untätig geblieben ist, hat die zuständige Strafkammer erst Ende September 2020 auf eine Verzögerungsrüge Adams hin die Anklage zugelassen. »Wir beobachten seit dem Angriff eine bemerkenswert zögerliche Bearbeitung durch die Thüringer Strafjustiz«, sagt der Anwalt. »Das bisherige Signal der Untätigkeit der Justiz ist jedenfalls fatal.«

Die »Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen« (ezra) hat das juristische Vorgehen schon 100 Tage nach dem Angriff scharf kritisiert. Die mangelnde adäquate Strafverfolgung sei »ein Signal an die Täter: Ihr habt mit keinen erheblichen Konsequenzen für lebensgefährliche Angriffe auf Menschen zu rechnen«. Das Gericht begründet die Verzögerung mit der nicht wieder besetzten Stelle für den Vorsitz der 3. Strafkammer, die sich um Strafsachen gegen Jugendliche und Heranwachsende kümmert. Vor ihr soll die Verhandlung stattfinden, da Nordulf Heise zum Tatzeitpunkt Heranwachsender war. Personen im Alter von 14 bis 17 Jahren sind im Auge des Gesetzgebers Jugendliche, für die immer das Jugendstrafrecht anzuwenden ist. Zwischen 18 und 21 gilt man als Heranwachsender, auch sie können - müssen aber nicht - nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden.

Adam und sein Göttinger Anwaltskollege Rasmus Kahlen wollen in dem Prozess darauf drängen, neben den angeklagten Delikten auch »einen versuchten Totschlag strafrechtlich mit in den Blick zu nehmen«. Mindestens ein Täter habe »in Kauf genommen, dass der Mensch dadurch sterben könnte«. Bei einer Verurteilung auch wegen versuchten Totschlags wäre eine Bewährungsstrafe wohl ausgeschlossen.

Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) wünscht sich, dass es in dem Prozess »schnell zu Verurteilungen« kommt. »Zu harten Urteilen gerne, um für die Zukunft sicherzustellen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.« Die Staatsanwaltschaft rechnet nach eigenen Angaben mit einem »hochstreitigen Verfahren«. Von den Angeklagten gebe es keine Einlassungen zur Sache, das sei auch nicht zu erwarten gewesen. Für die Beweisaufnahme hat das Gericht bislang acht Verhandlungstage angesetzt.