nd-aktuell.de / 07.01.2021 / Gesund leben / Seite 7

Als Nächstes ein Stechen im Nacken

Gegen Migräne kann ein individuelles Therapiekonzept mit mehreren Komponenten hilfreich sein

Angela Stoll

»Oft geht es damit los, dass mir Wörter nicht mehr einfallen«, berichtet Mehmet Celik. »Als Nächstes spüre ich meistens ein Stechen im Nacken.« Wenn der 41-Jährige solche Symptome an sich beobachtet, weiß er, dass es wieder so weit ist: Die nächste Migräneattacke steht bevor. Früher folgten darauf schier unerträgliche Schmerzen. Inzwischen sind die Anfälle leichter und seltener geworden: »Das ist ein Stück Lebensqualität.«

Seit seiner Kindheit leidet der Vertriebsleiter an starken Kopfschmerzen, die regelmäßig wiederkehren. Als er acht, neun Jahre alt war, wurde bei ihm Migräne diagnostiziert. Von den Tabletten, die er einnehmen musste, bekam er als Teenager ein Magengeschwür. Nichts konnte ihm längerfristig helfen. »Ich habe nahezu alles ausprobiert, unter anderem Antidepressiva, Physiotherapie und Akupunktur«, erzählt er. Zuletzt kam er auf bis zu 20 Schmerztage pro Monat. Ein schwieriger Balanceakt war es für ihn, sich nicht zu oft krankzumelden, aber auch nicht zu viele Schmerztabletten zu nehmen. Der Übergebrauch solcher Mittel kann nämlich zu neuen Kopfschmerzen führen.

Einen großen Fortschritt erzielte Celik mit einer relativ neuen Therapie: Er setzt sich alle paar Wochen Spritzen mit monoklonalen Antikörpern. »Seitdem habe ich nur noch vier bis acht Schmerztage pro Monat«, berichtet er. »Das ist sensationell.« Vielfach kann er die Anfälle noch abfangen, wenn er die ersten Vorboten bemerkt: »Oft helfen mir dann schon Entspannungsübungen.« Diese kombiniert er mit seinem persönlichen Spezialrezept: Espresso mit frisch gepresster Zitrone, dazu reichlich Wasser. Außerdem hilft ihm regelmäßiges Joggen. Seit er die Migräne besser kontrollieren kann, geht es dem Familienvater auch psychisch besser. »Vorher war ich öfters mal gedämpft. Wenn man an 20 Tagen pro Monat Schmerzen hat, drückt das die Stimmung.«

Sogenannte Migränespritzen sind in Deutschland seit rund zwei Jahren auf dem Markt. Es handelt sich dabei um Medikamente, die den körpereigenen Botenstoff Calcitonin Gene-related Peptide (CGRP) blockieren. Dass dieses Molekül bei der Entstehung von Migräneattacken eine wesentliche Rolle spielt, ist schon lange bekannt, wie der Generalsekretär der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft, Charly Gaul, erklärt. Inzwischen gibt es zwei Präparate, die sich direkt gegen CGRP richten, und eines, das den Rezeptor dieses Botenstoffs blockiert.

Die Mittel sind für Patienten zugelassen, die mindestens vier Migränetage pro Monat haben, und müssen regelmäßig unter die Haut gespritzt werden. »Studien zeigen, dass die Wirkung der monoklonalen Antikörper mindestens ebenso gut ist wie die der bisherigen Migräneprophylaxen«, sagt Gaul. »Im klinischen Alltag hat man den Eindruck, dass sie noch etwas besser wirken; vor allem setzt die Wirkung schneller ein.« Rund die Hälfte der Migränebetroffenen könnten die Anzahl ihrer Attacken mindestens halbieren, einige Betroffene hätten sogar kaum noch Anfälle. Aber es gibt auch Patienten, bei denen die Mittel überhaupt nicht wirken.

Auch für die Essener Neurologin Astrid Gendolla, die Celik behandelt, ist klar, dass die neuen Medikamente eine weitere Behandlungsoption, aber kein Allheilmittel sind. »Ob ein Patient darauf anspricht oder nicht, lässt sich nicht vorhersagen«, so Gendolla. »Wenn die Mittel aber wirken, dann sind die Erfolge oft sensationell.«

Gaul zufolge können die Spritzen Patienten helfen, die - wie Mehmet Celik - erfolglos andere Mittel zur Migräneprophylaxe ausprobiert haben. »Diese Medikamente sind gerade für Schwerbetroffene mit frustrierenden Behandlungserfahrungen nochmals eine gute Chance.« Ein Vorteil gegenüber anderen Prophylaxe-Mitteln ist die gute Verträglichkeit: »Nur wenige Patienten beenden die Therapie wegen Nebenwirkungen«, sagt der Kopfschmerz-Experte.

Auch nach Gendollas Einschätzung haben die neuen Medikamente vergleichsweise wenig unangenehme Wirkungen. »Es kann zum Beispiel zu allergischen Reaktionen an der Einstichstelle und zu Verstopfung kommen«, sagt sie. Mehmet Celik hat die Spritzen jedenfalls gut vertragen: »Anfangs habe ich unter Schlafproblemen gelitten, aber das hat sich bald gelegt.« Sich die Injektionen zu setzen, war für ihn kein Problem.

Ein Nachteil der Therapie ist ihr Preis: Sie kostet mehrere Tausend Euro pro Jahr. Die Spritzen können auch nur dann zulasten der Krankenkassen verschrieben werden, wenn andere Medikamente zur Migräneprophylaxe wirkungslos waren oder nicht vertragen wurden. Es gibt nämlich einige andere bewährte Mittel, die Migräneanfällen ebenfalls vorbeugen können. Dazu gehören Präparate, die eigentlich gegen Bluthochdruck, Depressionen, epileptische Anfälle und Schwindel entwickelt wurden. Außerdem kommt für Patienten, die an mindestens 15 Tagen pro Monat Schmerzen haben, Botulinumtoxin A (»Botox«) infrage. Der hochgiftige Stoff, der auch zur Faltenglättung unter die Haut gespritzt wird, blockiert die Übertragung von Nervensignalen in den Muskeln. Bei einigen Patienten senken diese Injektionen die Zahl der Schmerztage deutlich - warum, weiß man nicht genau. Anderen, wie auch Celik, helfen sie dagegen wenig oder gar nicht.

Neben Medikamenten gibt es viele andere Ansätze, schwere Migräne zu lindern: Sie reichen von Ausdauertraining, Entspannungsverfahren, Schmerzbewältigungstraining, Biofeedback, Akupunktur bis hin zu Physiotherapie. In der Regel ist es nicht ein Medikament oder ein bestimmtes Verfahren allein, das schwer betroffenen Patienten hilft, sondern eine Kombination aus verschiedenen Ansätzen: Ein »multimodaler Therapieansatz«, den Ärzte, Psychologen und Physiotherapeuten gemeinsam ausarbeiten, zeige gute Effekte, erklärt Gaul. »Durch die neuen Medikamente ändert sich an diesem Ansatz nichts«, sagt er. »Die Antikörper ergänzen die multimodale Therapie um einen weiteren Baustein.«

Auch Mehmet Celik weiß, dass jeder Migränepatient andere Erfahrungen macht. »Dem einen hilft die Spritze nicht, dafür aber Akupunktur. Beim nächsten wirkt wieder etwas anderes. Das ist völlig unterschiedlich!«