Erdoğans Angst vor neuem Gezi-Aufstand

Türkische Polizei geht brutal gegen Demonstrationen von Oppositionellen vor

  • Max Zirngast
  • Lesedauer: 2 Min.

Der Streit um den neuen Direktor der Boğaziçi-Universität in Istanbul, Melih Bulu, geht weiter. Auch am Dienstag stellten sich Akademiker erneut auf dem Campus mit dem Rücken zum Direktorat auf. Studierende forderten in Sprechchören den Rücktritt Bulus. Am Wochenende und am Montag wurden bei Protesten zahlreiche Studierende verhaftet, 60 von ihnen befinden sich noch immer in Polizeigewahrsam.

Seit Melih Bulu am 1. Januar 2021 von Präsident Erdoğan zum neuen Direktor der Boğaziçi-Universität in Istanbul ernannt wurde, demonstrieren Studierende und Teile der Lehrenden gegen ihn. Sie erachten Bulu als akademisch ungeeignet - seine Promotion strotze vor plagiatsverdächtigen Passagen.

Angeheizt wurden die Proteste zuletzt durch Haftbefehle gegen zwei Studierende am Wochenende. Sie waren im Zusammenhang mit einer Ausstellung auf dem Campus der Universität festgenommen worden, auf der auch ein umstrittenes Bild des muslimischen Heiligtums Kaaba in Saudi-Arabien gezeigt wurde. Unter anderem zieren LGBTQI-Flaggen den Rand des Bildes. Innenminister Süleyman Soylu sprach von »LGBTQI-Perversen« in einem Tweet, den Twitter mit Warnhinweis versehen hatte; gegen zwei Studierende wurden Haftbefehle erlassen.

Ab dem Zeitpunkt schaukelte sich die Lage hoch, die Studierenden forderten die sofortige Freilassung der Inhaftierten. Die bürgerliche Opposition stellt sich derweil hinter das Regime und spricht teilweise von der »Erniedrigung religiöser Werte«.

Am Montag eskalierte die Lage dann vollends: Zuerst wurde ein Pride-Marsch in Izmir angegriffen, der auch als Unterstützung für die Proteste in Istanbul konzipiert war, und etwa 30 Menschen festgenommen. Gleichzeitig marschierte an der Boğaziçi die Polizei mit einem massiven Aufgebot auf, um die Studierendenproteste einzudämmen. Bei den Auseinandersetzungen wurden 159 Studierende festgenommen. 60 sind noch immer in Haft. Für Dienstag wurden dann schnell in vielen Städten Solidaritätskundgebungen angekündigt. Die Kundgebung in Ankara wurde mit großer Brutalität attackiert. Im Istanbuler Bezirk Kadıköy wurde die dortige Kundgebung verboten.

Sowohl das Regime wie auch die systemimmanente Opposition sind in Alarmbereitschaft. Die Regierung fürchtet ganz offensichtlich einen neuen Gezi-Aufstand. Es scheint, als befände sich die Türkei gerade wieder an einer kritischen Schwelle.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal