nd-aktuell.de / 04.02.2021 / Kommentare

Systematische Trinkgeld-Unterschlagung

In den USA haben Amazon und Starbucks ihre Beschäftigten jahrelang um Trinkgeld betrogen - und mussten zahlen. Das muss auch in Deutschland möglich sein, meint Elmar Wigand

Elmar Wigand

Wie verkommen muss ein milliardenschwerer Konzern sein, seine Beschäftigten systematisch um Trinkgeld zu betrügen? In den USA haben Unternehmen wie Amazon und Starbucks dies jahrelang getan - und mussten zurückzahlen. Die Lage in Deutschland ist keineswegs besser. Sie wird nur nicht erkannt.

Am 2. Februar stimmte Amazon einem Vergleich mit der US-Verbraucherschutzbehörde FTC zu: Das Unternehmen zahlt 61,7 Millionen US-Dollar an Paket-Fahrer von Amazon Flex zurück. Bereits im Jahr 2008 verurteilte eine US-Richterin die Kaffee-Kette Starbucks wegen systematischer Trinkgeld-Unterschlagung zur Zahlung von 100 Millionen Dollar. Rund 100.000 Beschäftigte sollten aus einem Fonds entschädigt werden, in den Starbucks einzahlt.

Jahrelanger Betrug beim Trinkgeld durch Marken, die wie Fett auf der Suppe schwimmen. Es wird doch wohl nicht an Seattle liegen, wo rein zufällig die Firmenzentralen von Amazon und Starbucks sind? Weht der Geist des Geizes durch die Stadt, in der Grunge-Rock erfunden wurde und wo neben dem Sub-Pop Label (Nirvana, Sonic Youth) auch Microsoft (Bill Gates) sitzt?

Der Staat Washington erhebt zwar keine Unternehmenssteuern, ist aber keine Steueroase wie Delaware. Die Donald-Duck-Mentalität, auch Pfennigbeträge nicht gering zu schätzen, dürfte Jeff Bezos - zuvor stellvertretender Chef des Hedgefonds D. E. Shaw & Co. - von der Wall Street mitgebracht haben. Auch globale Consulting-Firmen und Rechnungsprüfer helfen gerne in dieser Richtung. Im konkreten Fall baut »Amazon Flex« einen Lieferdienst nach dem Vorbild von Uber auf. Privatleute können sich dort einloggen und fahren. Ihnen wurden 18 bis 25 Dollar Stundenlohn versprochen. Die Amazon-PR rühmt sich auch noch, die höchsten Stundenlöhne aller Lieferdienste zu zahlen.

Aber: Wenn die Fahrer ihr Stundensoll nicht geschafft hatten, wurde mit dem Trinkgeld aufgefüllt, dass die Kunden online vergeben können. Die US-Verbraucherschutzbehörde schaltete sich vermutlich ein, weil Amazon auch die Kunden betrogen und missbraucht hat, die in gutem Glauben einen Teil der garantierten Lohnkosten übernahmen, obwohl sie den Boten doch ein Extra zukommen lassen wollten. Was die Amazon-PR komplett unterschlägt: Die angepriesenen bis zu 25 Euro Stundenlohn sind Augenwischerei. Die selbständigen Flex-Fahrer verursachen keinerlei Lohnnebenkosten, Amazon hat keinerlei Fürsorgepflicht. Rechnet man Versicherungen, Fahrzeugkosten und Reparaturen heraus, ergibt sich höchstwahrscheinlich nur ein Hungerlohn. Oder ein digitales Sub-Proletariat ohne Kranken- und Rentenversicherung.

Kein Zweifel: Das Amazon-Prinzip ist als sozialschädlich abzulehnen. Dass wir allerdings mit dem Finger auf US-Schurken-Konzerne zeigen können, liegt auch daran, dass das deutsche Rechtssystem im Vergleich zu den USA unterentwickelt ist. In Deutschland gibt es - bis auf wenige Ausnahmen wie geprellte Lehmann-Kunden, Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg und Diesel-Fahrer - keine Möglichkeit der Sammelklage und keine kollektive Entschädigung über Fonds. Das ist absurd, rückständig und muss sich dringend ändern! Gerade in Bezug auf Arbeitsverhältnisse.

In Deutschland müsste tatsächlich jeder einzelne Paketbote, jede einzelne Kellnerin und Putzkraft, jeder Leiharbeiter immer wieder den Arbeitgeber wegen Lohnraub verklagen. Als handele es sich um Einzelfälle. Die Arbeitsgerichte weigern sich, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Sie stoppen die Unrechtspraxis meist nicht. Zwar gibt es Präzedenzfälle, aber das ist im Fall von Trinkgeld nicht zu befürchten, denn die zu erwartende Entschädigung ist geringer als die Anwaltskosten.