Tarifvertrag soll »Nasenprämie« ablösen

Belegschaft im Kabelwerk Meißen fordert nach elf Jahren ohne Lohnerhöhung eine bessere Bezahlung

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf den ersten Blick scheint es, als wüsste das Management der Kabelwerk Wilhelm Balzer GmbH Meißen, was es an seiner Belegschaft hat. Im Firmenporträt werden die »engagierten und erfahrenen Mitarbeiter« gepriesen, die mit »kreativen Ideen und hoher technischer Kompetenz« zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Wer zuletzt das Werksgelände in der sächsischen Stadt passierte, der erfuhr indes, dass sich die Mitarbeiter mehr wünschen als verbale Streicheleinheiten. Auf Plakaten wurde die Entlohnung in dem Betrieb in drastischen Worten kritisiert: »Hier«, so hieß es, »entsteht Altersarmut«.

Die Plakate sind Teil eines Arbeitskampfs, der seit Monaten schwelt und erst nach Androhung eines unbefristeten Streiks womöglich doch friedlich gelöst wird. Vorige Woche hatten sich die Mitglieder der IG Metall in der Belegschaft bei einer Urabstimmung mit über 75 Prozent für eine unbefristete Arbeitsniederlegung ausgesprochen. Sie hatte laut Gewerkschaft »in Kürze« beginnen sollen. Unter dem Eindruck eines möglichen Ausstands gibt es nun plötzlich Bewegung. Die Chefetage habe Verhandlungsbereitschaft signalisiert; man sei daher »im Moment im Stand-by«, sagte Willy Eisele, der Erste Bevollmächtigte der IG Metall in der Region Riesa.

Das Kabelwerk ist mit seinen 140 Mitarbeitern kein unbedeutender Arbeitgeber. Es stellt ein breites Sortiment an Kabeln, Litzen und Seilen her und zählt sich zu den ältesten Unternehmen der Branche in Deutschland; die Firmengeschichte begann 1864 mit einer Fabrik für Zündschnüre. Ab 1990 gehörte der Betrieb zum Siemens-Konzern; seit 1995 ist er ein eigenständiges Familienunternehmen.

Den Arbeitsbedingungen war das offenkundig nicht zuträglich. Zwar gab es bis zu dessen Kündigung im Jahr 2017 einen Haustarifvertrag. Die Löhne seien seit elf Jahren nicht mehr erhöht worden und lägen zumindest für einen Teil der Mitarbeiter »nur unwesentlich über dem Mindestlohn«, sagt Stefan Ehly, Zweiter Bevollmächtigter der Gewerkschaft. Zwar erklärt das Unternehmen, man zahle Leistungsprämien. Die Gewerkschaft kritisiert aber, es gebe keine klaren Regeln, was Ungleichbehandlung der Mitarbeiter bewirke: »Das sind Nasenprämien.«

Betriebsrat und Gewerkschaften drängten auf Tarifverhandlungen. Um die Forderung zu bekräftigen, gab es Warnstreiks teils im Wochentakt und Protestaktionen wie einen Autokorso in Meißen. Das Management aber stellte sich stur. Im November erklärte Geschäftsführer Lars Balzer, die Firma befinde sich seit Langem in einer wirtschaftlich angespannten Lage; binnen acht Jahren habe man Verluste von 11,7 Millionen Euro erwirtschaftet. Der Betrieb habe nur mit finanzieller Unterstützung der Gesellschafter und »großer Flexibilität der Beschäftigten« aufrechterhalten werden können. Mit den »Maximalforderungen« der Gewerkschaft riskiere man eine Insolvenz des Unternehmens.

Woher Balzer die »Maximalforderungen« kennen will, ist Ehly freilich ein Rätsel: »Bisher hat sich der Arbeitgeber nicht einmal angehört, was wir wollen.« Kontakt gab es bisher nur mit dem Betriebsrat, der aber »keine Partei für Tarifverhandlungen ist«, betont Ehly. Zu Details der Forderungen will er sich nicht vorab äußern; erstes Ziel von Gewerkschaft und Belegschaft sei es aber, an den 2017 gekündigten Haustarif anzuknüpfen. »Perspektivisch wollen wir zurück zum Flächentarif«, sagt der Gewerkschafter, »davon sind wir aber weit entfernt.«

Das Kabelwerk ist dabei kein Einzelfall. In Sachsen würden nur 39 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt, ergab eine Studie des DGB vor zwei Jahren; nur 15 Prozent der Betriebe seien tarifgebunden. Die sächsische Politik hatte jahrelang mit einem niedrigen Lohnniveau geworben, in der Hoffnung, Investoren anzulocken. Tarifflucht sei quasi »staatlich gewollt« gewesen, sagte DGB-Landeschef Markus Schlimbach. Heute betonen Landespolitiker, gute Arbeit müsse gut entlohnt werden, gerade angesichts wachsenden Fachkräftemangels. In vielen Firmen hat sich diese Erkenntnis aber noch nicht durchgesetzt. Als Mitarbeiter der Teigwarenfabrik Riesa 2019 streikten, erklärten sie auf Plakaten sarkastisch, sie könnten »gar nicht so schlecht arbeiten, wie wir bezahlt werden«.

So sehen das jetzt auch die Kabelwerker und drohen mit unbefristeter Arbeitsniederlegung als »letztes und einzig effektives Mittel«, um die Forderung durchzusetzen, sagt Ehly. Es würde ein Streik der etwas anderen Art werden: Wegen Corona wäre eine große Streikwache am Werkstor nicht möglich. Dort würde lediglich eine »kleine Streik-Delegation« auf Posten ziehen, heißt es, alle anderen würden »den Streik von zu Hause aus durchführen«. Vorerst soll geprüft werden, wie ernsthaft das Gesprächsangebot ist. Falls sich zeige, dass das Management nur auf Zeit spiele, beginne man mit dem Streik, sagt Eisele: »Die Beschäftigten warten nur auf unser Zeichen.«

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