nd-aktuell.de / 06.02.2021 / Kultur / Seite 11

Ein neues Jahrhundert

Ramin Bahrani legt mit »The White Tiger« ein filmisches Meisterwerk vor. Das man zugleich als Manifest verstehen kann. Von Benjamin Moldenhauer

Benjamin Moldenhauer

Balram Halwai sitzt in Bangalore und erzählt dem chinesischen Premierminister Wen Jiabao ungefragt sein Leben, per Brief. Aufgewachsen in einem kleinen indischen Dorf, in Hunger und Armut, eventuell hochbegabt, aber mit einer Ausbildung wird es dann doch nichts, weil Balram schon als Kind arbeiten muss, damit sein Vater genügend Geld an den örtlichen Paten abdrücken kann. Der - also Balrams Vater - stirbt schon in den ersten Minuten des Films »The White Tiger«. Während des Totenrituals am Ufer des Flusses macht Regisseur Ramin Bahrani mittels Kameraarbeit klar, dass er es sehr genau nimmt mit allem, was er wahrnimmt und uns zeigt: eine Nahaufnahme der Füße des brennenden Vaters, die sich nach hinten biegen in der Hitze.

Überhaupt ist das hier alles kein Spaß, auch wenn dieser Film entertaining ist wie nur wenig sonst in diesem Jahr bis jetzt. Der Film ist, wie alles, was Ramin Bahrani bislang produziert hat, dicht erzählt, alles greift traumwandlerisch ineinander, wie sonst nur in den besten Filmen Martin Scorceses (»Good Fellas« und »Casino« wird sich Bahrani vermutlich nicht selten angeschaut haben).

»The White Tiger« hat, indem er die Reise seines Protagonisten als exemplarisch verstanden wissen will, durchaus etwas von einem Manifest, im nun anbrechenden, so formuliert es Balram in seinem Brief an den chinesischen Premierminister, »Jahrhundert des gelben und braunen Mannes«. Die Drohung vom Ende des Westens schwingt bei Balrams Aufstiegserzählung unterschwellig immer mit. Aravind Adigas Romanvorlage »Der weiße Tiger« aber ist zunächst die Geschichte der gewaltsamen Überwindung von Tradition, Familie und Kastenwesen, hin zu einem modernen, digitalisierten Unternehmertum, das die Demokratie nicht zwingend zur Voraussetzung hat. Balram Halwai (Adarsh Gourav) will aufsteigen und schließt sich der Familie des Paten an, als Diener. Er wird der Fahrer des jüngsten Sohnes des Clans, Ashok (Rajkummar Rao), und zieht mit ihm und seiner Frau Pinky nach Neu-Delhi. Die Familie besticht Politiker und steht für eine alte, oberflächlich noch dem Kastenwesen verhaftete Ökonomie - mit Ausnahme von Ashok und seiner Frau, die aus den USA zurück nach Indien gekommen sind und als westlich codierte Ideen in den Clan hineintragen.

Der sarkastische Wise-Ass-Tonfall entspricht Aravind Adigas Roman. Das ist eine weitere Qualität von »The White Tiger«: hier wird ein Text aufgenommen und mit filmischen Mitteln so erzählt, dass sein Geist erhalten bleibt und in der Übertragung etwas Neues entsteht, gerade weil mit filmischen Mitteln nicht buchstabengetreu gearbeitet werden kann. Adiga und Bahrani sind befreundet, sein 2008 erschienenes Buch hat er dem iranisch-amerikanischen Regisseur gewidmet. Zwölf Jahre später hat Bahrani den Roman verfilmt.

Die inszenatorische und schauspielerische Genauigkeit, mit der Bahrani und sein Hauptdarsteller Adarsh Gourav wirklich alle Facetten eines Diener-Herren-Verhältnisses durchspielen, ist in der Filmgeschichte (so weit ich sehe) ohne Beispiel: Servilität, Bewunderung, Unterwerfung, Demütigung, Eigensinn, geheime Freiräume, Beschiss und am Ende die Befreiung durch Gewalt. Selten finden mitreißendes Erzählen und analytische Präzision so formvollendet zusammen; und in gewisser Weise ist die Analyse in »The White Tiger« die Erzählung und kein Subtext mehr.

Häufig werden im Genrekino Herr-und-Knecht-Verhältnisse in sexualisierten Topoi gefasst. Sex fällt hier, vielleicht von einem kurzen Moment abgesehen, komplett aus, und damit öffnet sich der Raum für einen materialistischen Blick auf Ökonomie, Herrschaft und Gewalt. Auch in dieser Hinsicht steht er in einer Reihe mit den bisherigen Filmen Bahranis, der sich gerade zum interessantesten Autorenfilmer des US-Kinos entwickelt und einmal mehr belegt, dass eine Außenseiterposition eine gute Voraussetzung für einen genauen und radikalen Blick auf die Menschen und ihre Verhältnisse ist, während das Zentrum tendenziell Bräsigkeit und Affirmation stimuliert. Alle Filme Bahranis zeigen Menschen, deren Verhältnisse untereinander von den sozialen Verhältnissen und Zwängen (die bei Bahrani zumeist dezidiert ökonomische sind) bestimmt sind. Man wird von ihnen immer wieder gezwungen, die Beziehungen der Figuren mit nüchternen Augen anzusehen. Das ist Augen öffnend und schmerzhaft.

Diese Nüchternheit führt immer wieder dazu, dass die Familie, anders als im US-Genrekino typischerweise sonst, nicht das wie auch immer in sich selbst gebrochene Gegenbild zu einem gefährlichen Außen ist (»der Gesellschaft«), sondern schlicht die Instanz darstellt, über die sich dieses Außen mitsamt seinen Profitgesetzen und Ausbeutungsmechanismen in das Innere der Figuren fortschreibt. Die Familie wird von Bahrani immer wieder auf Geldverhältnisse zurückgeführt. Das gilt für den Vater-Sohn-Konflikt in »Um jeden Preis - At Any Price«, für das Mentoren-Verhältnis in »99 Homes«, das auch wieder ein Herr-Knecht-Verhältnis ist, und es gilt auch für den Clan in »The White Tiger«, dem Balram dient und den er als Ersatzfamilie verstehen will. Um sich am Ende von ihm zu befreien. Und von seiner angestammten Familie gleich mit.

Manchmal verbirgt sich Ramin Bahranis Materialismus hinter Momenten, die auf den ersten Blick konventionell wirken. Balrams Monolog beispielsweise ist durchsetzt mit Kalendersprüchen: »In dem Moment, in dem du erkennst, was in dieser Welt schön ist, hörst du auf, ein Sklave zu sein.« Und auch das Ende des Films könnte als Kapitalismuskitsch verstanden werden. Da hat es einer, mit welchen Mitteln auch immer, aus dem Elend heraus und nach oben geschafft, um den Fortschritt zu symbolisieren: weg von Despotentum und Kastenwesen, hin zu einem Unternehmertum mit Ethik. In beiden Fällen aber läuft der voice over den Bildern zuwider. In »The White Tiger« ist die Erzählerstimme des Protagonisten nicht wie sonst oft Mittel, um in Literaturverfilmungen Strecke zu machen oder die Lücken zu füllen, die die Bilder gelassen haben. Der Voiceover setzt Selbstinszenierung und Selbstbild des Helden ins Verhältnis zu dem, was wir sehen, er ist eine selbstreflexive filmische Instanz, die Vielschichtigkeit evoziert, und kein Mittel zum Zweck.

Der Bruch zwischen manifestem Geschehen und Erzählerstimme ist offensichtlich: Es ist nicht das Erkennen der Schönheit, das hier das Sklavendasein beendet, sondern eine abgebrochene Flasche. Und der Aufstieg endet nicht in der Erlösung, sondern im nächsten Ausbeutungsverhältnis, das nun zwar fairer gestaltet ist, aber im Wesentlichen unverändert bleibt. Dass Ramin Bahrani diese und ähnliche Denkbewegungen den Zuschauer*innen nicht didaktisch um die Ohren haut, sondern sie einen mit Hilfe von Montage, Farben, Bewegung und mehr subtil und vor allem bedeutungsoffen mitgehen lässt, ist eine der größten Qualitäten seiner Filme.

»The White Tiger« auf Netflix