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Mehr Anspruch als Nutzen

Die ab Januar zugängliche elektronische Patientenakte ist weder überzeugend noch sicher

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

Röntgenbilder hinten im Kleiderschrank, Impfpass in einer Schublade, ärztliche Befunde vielleicht sogar in einem Ordner, Medikamentenplan bei den Pillenschachteln auf dem Esstisch: Mit den Unterlagen zur eigenen Gesundheit ist es für viele Menschen ähnlich unübersichtlich wie hier beschrieben. Seit Anfang Januar könnte die elektronische Patientenakte (ePA) für Ordnung sorgen. Das Angebot die genannten Dokumente und weitere Unterlagen digital zu bündeln, gilt für alle 73 Millionen gesetzlich Versicherten. Noch ist die ganze Sache freiwillig - das Vorhaben soll erst einmal kontrolliert in Gang kommen.

Patienten können die ePA-App bei ihrer Krankenkasse beantragen. Dann könnten sie eigene, nicht digital vorliegenden Unterlagen einscannen. Außerdem finden sie einen Bereich mit Informationen ihrer jeweiligen Krankenkasse, darunter auch eine Art Quittungen über die für sie abgerechneten Leistungen. In ein weiteres Segment könnten behandelnde Ärzte Befunde eintragen, allerdings gibt es hierfür bis zur Jahresmitte einen regional beschränkten Testlauf. Bis zum 1. Juli müssen niedergelassene Ärzte in der Lage sein, die ePA auf Patientenwunsch zu befüllen. Dazu sind eine PIN und die elektronische Versicherungskarte des Patienten nötig. Voraussetzung ist außerdem ein Smartphone. Ursprünglich geplante Terminals, an denen Versicherte etwa in Apotheken oder Kliniken ihre Daten hätten einsehen können, flogen noch in letzter Minute aus dem Patientendatenschutzgesetz, das einiges in Zusammenhang mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen regelt.

Der Patient entscheidet allein, welche Dokumente in der ePA vom jeweiligen Arzt gespeichert werden sollen. Ab 2022 soll der Inhaber der Akte auch einzelne Teile davon gezielt für bestimmte Ärzte freigeben können. Dann könnte der Zahnarzt nicht die Befunde des Psychiaters einsehen und umgekehrt. In diesem Jahr ist ein solcher begrenzter Zugang noch nicht möglich, was Datenschützer kritisieren. Als weiteres Hindernis sehen Verbraucherschützer, dass jedes Dokument, das Ärzte einsehen sollen, von den Patienten einzeln freigeschaltet werden muss.

Jahrelanges Gezerre um mehr Funktionen für die elektronische Gesundheitskarte hat diese auch nicht gerade vorangebracht. Die ePA soll jetzt einlösen, was mit der Karte nicht zu leisten war: Daten zusammenzufassen, die Mehrfachuntersuchungen oder unerwünschte Medikamentenwechselwirkungen verhindern helfen. Die ePA soll so nach und nach mit immer mehr Informationen gefüllt werden: Laborwerte, Röntgenaufnahmen, Befunde, außerdem Dokumente wie Impfausweis, Mutterpass oder das Bonusheft für den Zahnarzt.

Für die Behandler hat die ePA dennoch keinen überzeugenden Nutzen, zumal sie den Praxen die eigene Dokumentation der Patientenunterlagen nicht erspart - und auch nicht die Kommunikation mit Berufskollegen zu komplizierteren Fällen. Ärzte gehen zudem nicht davon aus, dass in Notfällen versucht würde, auf die ePA zuzugreifen. Behandelt würde entsprechend der akut vorliegenden Symptome.

Selbst der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber erklärte kürzlich: »In der jetzigen Form würde ich persönlich die ePA nicht nutzen.« Kelber kritisiert in diesem Zusammenhang die bis 2022 gültige Alles-oder-nichts-Lösung bei der Einsicht der Daten durch Heilberufler sowie den Ausschluss von Patienten ohne geeignete Endgeräte. Bei einer Veranstaltung, zu der Anfang Februar skeptische Mediziner und Therapeuten sowie Datenschützer eingeladen hatten, wurde die Kritik noch einmal gebündelt, einschließlich der Bedenken zum Datenschutz. Etwa zehn Prozent der genannten Heilberufler hätten in ihren Praxen noch nicht die Voraussetzungen geschaffen, die ePA zu nutzen, auch wenn ihnen dafür Honorarabschläge in Höhe von 2,5 Prozent drohen.

Einen hohen Schutzbedarf für die auf der ePA gespeicherten Daten sieht der Informatiker Thomas Maus. Er zieht als Beispiel Diagnosen heran, die auf ein erhöhtes Krankheitsrisiko hinweisen. Interesse an solchen Daten, die Bedeutung für die Gesundheit im Lebensverlauf bekommen könnten, hätten viele: Kreditinstitute und Versicherungen, der Staat in Bezug auf die Verbeamtung oder Unternehmen bei ihren Entscheidung für die Beförderung und Weiterbildung von Beschäftigten.

Bei Erbkrankheiten wächst die Zahl der möglicherweise Betroffenen deutlich über den einzelnen Versicherten hinaus. Für Kinder, aber auch Geschwister könnte bestimmt werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie ebenfalls bestimmten Krankheitsrisiken ausgesetzt sind. Der Verweis etwa auf Synonymisierung und Verschlüsselung der Daten kann Maus nicht überzeugen. »Die Rechenleistung von Computern weltweit verdoppelt sich alle 18 Monate, damit hat eine Verschlüsselung eine Lebenserwartung von sieben Jahren.« Und Politiker könnten nach aktuellem Bedarf schnell Gesetze ändern, mit denen eigentlich der Datenschutz gesichert sein sollte.

So wäre es nicht die schlechteste Aussicht für die ePA in der aktuellen Form, wenn sie letztlich an der Trägheit der Versicherten scheitert, die kein aktives Interesse an dieser IT-Lösung zeigen.

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