nd-aktuell.de / 19.02.2021 / Kultur / Seite 12

Was nach Hanau bleibt

Trotz aller Beileidsbekundungen: Wir haben immer noch ein Rassismusproblem

Demba Sanoh

Am 19. Februar 2020 wurden neun Menschen Opfer von Rassismus. Sie ließen ihr Leben aufgrund der faschistoiden Ideologie eines Täters, der seine Opfer gezielt danach aussuchte, ob er sie für Ausländer hielt oder nicht. Er suchte Orte auf, die für viele Menschen mit Migrationsgeschichte Schutzräume darstellen: Shisha-Bars. Dort konnte er sich sicher sein, genügend Menschen vorzufinden, die in seinen Augen durch ihr bloße Anwesenheit ihr Existenzrecht verwirkt hatten.

Rechter Terror ist in Deutschland nichts Neues: der NSU, München, Halle. Hanau ist kein Einzelfall. Aber - ohne die Schwere dieser Taten verharmlosen oder ihre Opfer und deren Angehörigen verletzen zu wollen - Hanau stellt eine Zäsur dar. Migrantische Communitys leben seit Jahrzehnten mit rechter Gewalt, mit gesellschaftlicher Marginalisierung und Diskriminierung. Das Bewusstsein, dass immer die Gefahr besteht, Opfer eines rassistischen Übergriffs zu werden, weil man als anders wahrgenommen wird - nicht weil man anders ist -, tragen viele Menschen in Deutschland mit sich herum. Doch in Hanau wurde diese Gefahr unmittelbarer denn je. Der Anschlag vermittelte das Gefühl, nirgendwo mehr sicher zu sein, nicht einmal in den selbst gewählten Schutzräumen. Diese Räume sind essenziell, um Kraft zu sammeln oder um den Freitagabend zu verbringen, weil es sonst kaum Orte gibt, an denen man willkommen geheißen wird.

Doch auch für den Rest der Gesellschaft war Hanau eine Zäsur. So schien es zumindest in den ersten Wochen nach dem Anschlag, in denen erstaunlicherweise von offiziellen Stellen sehr deutlich die Worte »Rassismus« und »Terroranschlag« zu hören waren. Das war neu und kam (mal wieder) zu spät, aber dennoch erschien es als Fortschritt. Angela Merkel bezeichnete Rassismus als »Gift«, knapp einen Monat nach der Tat wurde von der Bundesregierung ein Kabinettsausschuss zur »Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus« eingerichtet.

Große deutsche Medienhäuser berichteten intensiv über den Anschlag und einige bemühten sich, um eine angemessene Wortwahl, manche richteten den Fokus sogar auf von Rassismus betroffene Menschen und ließen sie zu Wort kommen. In den sozialen Medien häuften sich Beileids- und Solidaritätsbekundungen, und in den ersten Monaten danach schien es - sicherlich auch begünstigt durch die globale Aufmerksamkeit für die Black-Lives-Matter-Bewegung, als würde die weiße Mehrheitsgesellschaft zum ersten Mal wirklich in den Spiegel schauen.

An diesem Freitag jährt sich der Anschlag zum ersten Mal. In vielen deutschen Städten wird es, trotz Corona, Gedenkveranstaltungen und Demonstrationen geben. Aber wer wird an ihnen teilnehmen? Was bleibt ein Jahr nach Hanau? Die vorsichtige Zuversicht der ersten Monate, dass Rassismus nun endlich ernst genommen würde, ist nüchterner Resignation gewichen. Mehr noch, Wut und Trauer gesellen sich dazu ob der Gleichgültigkeit aller Unbeteiligten dem Ereignis gegenüber.

Vielleicht hätte man es schon ahnen können, als der Vater Ferhat Unvars - ein paar Stunden, nachdem er seinen Sohn verloren hatte - auf der offiziellen Trauerfeier für die Opfer nicht auf die Bühne gelassen wurde. Neben dem Bundespräsidenten, Hessens Ministerpräsidenten und dem Bürgermeister Hanaus sei kein Platz mehr gewesen.

Die Anzeichen dafür, wie wenig Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland als Teil der Gesellschaft akzeptiert werden, wie wenig Hanau als Konsequenz einer diskriminierenden Gesellschaftsstruktur anerkannt wird, haben sich in der letzten Zeit gehäuft.

Die längst überfälligen Diskussionen über Polizeigewalt und strukturellen Rassismus in den deutschen Sicherheitsbehörden wurden von Polizeigewerkschaften und Horst Seehofer auf so eine ignorante Art und Weise im Keim erstickt, dass man darüber lachen könnte, würde diese Fahrlässigkeit nicht tagtäglich Menschenleben gefährden. Der Unwille, Kritik anzunehmen oder auch nur die eigene Fehlbarkeit zur Disposition zu stellen, prägt weiterhin den Umgang deutscher Sicherheitskräfte mit denjenigen, die sie eigentlich schützen sollten.

Da verwundert es zwar nicht, dass in den letzten Wochen mehr und mehr behördliches Versagen im Zusammenhang mit dem Anschlag ans Licht kam, aber es schmerzt umso mehr: Am Tatabend waren in der zuständigen Polizeileitstelle für Notrufe überhaupt nur zwei Leitungen freigeschaltet und es war nur ein Beamter vor Ort, um Anrufe entgegenzunehmen. Zahlreiche Notrufe wurden nicht umgeleitet oder gar zurückverfolgt. Vili Viorel Păun wird erschossen, bevor er die Polizei telefonisch erreichen kann.

Der Notausgang einer der Shisha-Bars war außerdem verschlossen und hinderte somit womöglich zwei der Opfer - Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi - an der Flucht. Ermittlungen, warum der Notausgang verschlossen war, wurden von der Staatsanwaltschaft Hanau allerdings erst im November 2020 aufgenommen - nachdem Angehörige der Opfer wegen fahrlässiger Tötung geklagt hatten. Stammgäste der Bar wurden in Medienberichten zitiert, der Notausgang sei auf Veranlassung der Polizei verriegelt worden, um bei Kontrollen einer Flucht vorzubeugen. Das zuständige Polizeipräsidium Südosthessen dementierte. Doch damit noch nicht genug: Der Täter fiel schon in den 2000er Jahren immer wieder behördlich auf - Anzeigen, polizeiliche Verfahren, Vermerke über seine psychischen Störungen bei den Gesundheitsämtern. Wie konnte der Täter, polizeibekannt und psychisch krank, also eine Waffenbesitzkarte bekommen? Auf seiner Homepage veröffentlichte er vor seiner Tat, was er vor hat. Für die Behörden wäre es ein Leichtes gewesen, seine Pläne nachzuvollziehen, hätte man sie ernst genommen.

Abgesehen von den Behörden zeigten auch andere Teile der deutschen Gesellschaft, die nicht von Rassismus betroffen sind, dass sie diesen immer noch nicht als Gefahr wahrnehmen und der angebliche Lernprozess nach Hanau rein performativer Natur war. Es gibt zahllose Beispiele: der Totalausfall in der WDR-Talkshow »Die letzte Instanz«, in der eine ausschließlich weiße Runde Rassismus als Befindlichkeit einiger weniger abtat und dabei nicht mit rassistischer Sprache sparte, eine »Tagesspiegel«-Redakteurin, die antirassistischen Aktivist*innen vorwarf, aus ihren Diskriminierungserfahrungen Profit schlagen zu wollen, oder die CDU, die nicht mal eine Woche (!) vor dem Jahrestag des Anschlags einen Werbespot veröffentlicht, der sich vermeintlich gegen Geldwäsche richtet, aber nur so vor Stereotypen strotzt und rassistische Klischees reproduziert.

Man mag diese Beispiele isoliert betrachten und behaupten, sie hätten mit Hanau nichts zu tun. Doch damit belügt man sich selbst, denn sie zeugen von einer Mehrheitsgesellschaft, die immer noch nicht dazugelernt hat. Die immer noch nicht verstanden hat, dass Rassismus, in welcher Form auch immer, tötet. Die immer noch nicht verstanden hat, dass die Marginalisierung und Ausgrenzung von Menschen, Rassisten dazu ermutigt, Anschläge zu verüben, weil sie glauben, sie handeln im Sinne der Mehrheit. Und nimmt die Mehrheit diese Missstände weiter hin, kommt das einer Zustimmung gleich. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Mittäterschaft ist mühsam, die eigenen Privilegien müssten hinterfragt werden. Es ist offensichtlich nicht genug, dass seit Jahren Menschen in Deutschland sterben, solange es diejenigen sind, die sowieso am Rand der Gesellschaft stehen. Solange immer nur die Kinder der »anderen« sterben, fällt es leicht, sich nicht betroffen zu fühlen. Aber Rassismus ist das Problem der Mehrheitsgesellschaft, nicht der Betroffenen, die einfach nur existieren. Was sich im letzten Jahr getan hat, reicht bei weitem nicht. Ganz im Gegenteil, die Entwicklungen der vergangenen Monate zeigen, dass es jederzeit wieder passieren könnte.

Deswegen sagt ihre Namen: Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović , Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu. Mein Herz blutet. Hanau ist überall.