nd-aktuell.de / 19.02.2021 / Kultur / Seite 13

Die schönen Augen der Wut

Eine brachiale Zärtlichkeit: Françoise Cactus war ein Ereignis

Jens Buchholz

Tatsächlich spiele ich Schlagzeug, singe ich, male ich, koche ich und schreibe ich«, so beschrieb sich Françoise Cactus im Jahr 2004 . In einem Interview mit Tatjana Zilg für »Aviva-Berlin« erklärte sie: »Für mich sind all die Bereiche, in denen ich mich ausdrücke, nur verschiedene Felder einer selben Idee. Wahrscheinlich fällt es mir leichter, Bücher zu schreiben, seitdem ich Lieder gedichtet habe. Ein Lied schreiben ist das Schwierigste, was es gibt.«

Am bekanntesten war Françoise Cactus als Sängerin des Duos Stereo Total. Zusammen mit ihrem Freund, dem Soundbastler und Multiinstrumentalisten Brezel Göring, kreierte sie göttliche Lo-Fi-Songs, die sie mit ihrer unverwechselbaren Stimme und ihrem französischen Akzent krönte. Als Texterin war sie unschlagbar. Beispielsweise 1997 in ihrem ersten kleinen Stereo-Total-Hit »Schön von hinten«, einem Anti-Liebeslied. Da singt sie: »Löse dich in Luft auf / Hinterlass keine Spuren / Zeig, wie du aussiehst, wenn du nicht mehr bist / Ich bedanke mich herzlich / Ich hatte viel Spaß mit dir / Aber ohne dich war es auch nicht schlecht / Vielleicht besser sogar…«

Françoise Cactus adelte das scheinbar Schlichte und Klischeehafte, um sich dann, mitten im bewusst dilettantisch performten Klischee, von genau diesem zu befreien. Süß sein, aber böse. Zärtlich sein, aber auf brachiale Weise. »Ach, ach Liebling, ich lieb alles, was du tust / Wenn du böse bist, verspüre ich die Lust / Dich noch ein bisschen mehr zu ärgern / Denn die Wut gibt dir schöne Augen«, dichtete sie Françoise Hardys Sechzigerjahre-Schlagerhit um. Musikalisch bewegte sich der Sound von Stereo Total auf einer Lo-Fi-Variante des französischen Rock’n’ Roll-Sounds der YéYé-Sänger*innen der 1960er. Bei Konzerten thronte Cactus Schlagzeug spielend und singend am vorderen Bühnenrand. Sie war ein Ereignis.

1964 wurde sie in der französischen Provinz geboren. Da hieß sie noch Françoise van Hove. Die van Hoves waren ein altes Adelsgeschlecht. Für Françoise hatte das keine Bedeutung. Ihr waren Popmusik und Bücher wichtig. Als junge Frau ging sie nach Paris, um dort Literaturwissenschaft zu studieren. 1985 oder 1986 kam sie über Umwege nach Berlin und begann im Layout der »Taz« zu arbeiten. »Berlin war hässlich, aber unwiderstehlich«, schrieb sie in ihrem Buch »Abenteuer einer Provinzblume«. Und es war, als habe der Berliner Underground diese Frau schon lange gesucht und endlich gefunden. Sie gründete die Lolitas, eine raue Garagenrockband.

Ihren adeligen Namen legte sie ab und nannte sich von nun an »Françoise Cactus«. »Es passt viel besser«, erklärte sie »Aviva-Berlin«, »an mir ist nur die Nase adelig gerade. Ansonsten lache ich vulgär, rauche wie ein Schlot, huste, bin schlecht erzogen.« Einen Adelstitel der anderen Art bekam sie aber trotzdem. Sie wurde die »Erzherzogin des Berliner Undergrounds«. Mit den Lolitas stieg sie zur festen Subkultur-Größe in Berlin auf. Dann gründete sie 1993 Stereo Total mit Brezel Göring und wurde mit dieser Band ab Mitte der 1990er auch deutschlandweit bekannt.

Noch bekannter wurde sie, als die Boulevard-Zeitungen sie entdeckten. Cactus beteiligte sich 2004 mit ihrer aus Topflappen gehäkelten, lebensgroßen Puppe »Wollita« an der Ausstellung »When Love turns to Poison«. Die Ausstellung beschäftigte sich mit der dunklen Seite der Sexualität, mit Missbrauch und Gewalt. Die »BZ« machte sie zur Skandalausstellung, mit der Behauptung, »Wollita« würde zu Sexualstraftaten aufrufen. Das war eine Umkehrung der Verhältnisse, die Cactus kritisierte. Denn das Vorbild für »Wollita« war eine »BZ«-Anzeige, in der stand: »Geile Wollmaus, 18 Jahre. Mache alles mit!« Cactus stellte sich den Vorwürfen auf ihre Art mit ihrem Buch »Wollita - Vom Wollknäuel zum Superstar!« Vergeblich blieb eine Initiative, die 300 Künstler*innen unterschrieben, die für »Wollita« die Verleihung des »Kulturpreises« der »BZ« forderte - als Entschuldigung. Ab 2016 moderierte Cactus dann eine Sendung bei Radio Eins und ließ ihre Hörer*innen an ihrem »Auskennerkosmos« teilhaben.

Ihre Romane und Kurzgeschichten bezeichnete sie selbst als »Lolita-Literatur«. Die Heldinnen dieser Geschichten waren meistens autobiografische Varianten der Autorin. Etwa die Heldin Mitzi in dem Buch »Abenteuer einer Provinzblume«. »Sie war dünn, tittenlos und trotzdem arrogant. Tante Marlene nannte sie nur ›die Erzherzogin‹.« Oft handeln die Geschichten von einem Mädchen, das trotz vieler Widrigkeiten seinen Weg zum Glück entlangstolpert und es dann ganz woanders findet, als erwartet. Der Stil dieser Geschichten ist oft völlig over the top, voller Klischees und Schein-Naivität, die sich ineinander auflösen. Aber wie in ihrem Leben, ging es ihr in ihren Büchern nicht darum, wie es tatsächlich war, sondern darum, wie es hätte sein können. Das Sein-Können, die offene Möglichkeit, war eine wichtige Grundlage ihrer Kunst. Das galt auch für ihre Hörspiele. Beispielsweise das über die entführte und dann vom Stockholm-Syndrom befallene US-Millionärstochter Patty Hearst. Immer steht das Empowerment junger Frauen auf Umwegen im Mittelpunkt. Ohne Erlösung durch einen Märchenprinzen. Die jungen Frauen emanzipieren sich, weil sie ihre Möglichkeiten erkämpfen.

Am Mittwoch ist Françoise Cactus an Krebs gestorben. Aber wir, ihre Hörer*innen und Leser*innen, haben die Welt so oft durch ihre Kunst betrachtet, dass sie längst ein Teil von uns geworden ist.