nd-aktuell.de / 04.03.2021 / Berlin / Seite 9

Die Wut kommt in Wellen

Seit Beginn der Pandemie leiden mehr Frauen und Kinder unter innerfamiliärer und häuslicher Gewalt

Josefine Körmeling

Die Gewalt im eigenen Haushalt bleibt für Außenstehende im Verborgenen. »Die Opfer nicht aus dem Blick zu verlieren, ist zurzeit das Wichtigste«, sagt Saskia Etzold, die Leiterin der Gewaltschutzambulanz an der Berliner Charité. Dies gelte insbesondere für die Kinder, die während des Lockdowns durch die Schließung von Kitas und Schulen aus der sozialen Kontrolle geraten könnten: »Seien Sie deshalb bitte aufmerksam, wenn Sie etwas in Ihrer Umgebung wahrnehmen«, appelliert die Ärztin am Mittwoch bei der Bekanntgabe der aktuellen Zahlen aus ihrer Einrichtung in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne).

Seit 2014 gibt es die Gewaltschutzambulanz, bei der Opfer häuslicher Gewalt ihre Verletzungen medizinisch dokumentieren lassen können. Dies kann hilfreich sein, um das Vergehen zur Anzeige zu bringen. Durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie sei die Zahl der Gewaltopfer, die sich an die Ambulanz wenden, gestiegen, berichtet Etzold. Insgesamt habe es 2020 einen Zuwachs von acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr gegeben, und auch die Schwere der Verletzungen habe zugenommen. Dabei habe es »wellenartige Bewegungen« gegeben - die Anzahl der dokumentierten Fälle sei in den Phasen des »harten Lockdowns« im Frühjahr und seit November stark zurückgegangen, während in den Sommermonaten deutlich mehr Delikte dokumentiert wurden.

Dieser kurvenförmige Verlauf hat allerdings weniger damit zu tun, dass häusliche Gewalt bei einer Verschärfung der Eindämmungsmaßnahmen abnimmt. Vielmehr offenbart er das Problem, dass es in diesen Zeiten für Betroffene weitaus schwieriger geworden ist, sich an Hilfsstrukturen zu wenden. Im Lockdown stelle es zum Beispiel eine große Hürde dar, das Haus mit einer plausiblen Begründung für zwei Stunden zu verlassen, um zur Gewaltambulanz zu fahren, erklärt Medizinerin Etzold. Und auch aus Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus wenden sich viele Betroffene nicht an öffentliche Stellen.

Dass es wichtig ist, Hilfsangebote auch in Zeiten von Abstandsgeboten weiter offen zu halten, betont auch Dirk Behrendt. Die Berliner Strafverfolgungsbehörde verzeichnete ebenfalls einen Anstieg von Verfahren im Bereich der häuslichen Gewalt. »Die Zunahme von häuslicher Gewalt ist eine der ganz gravierenden negativen Ergebnisse des Lockdowns«, sagt der Justizsenator dazu.

Besonders gefährdet sind Frauen, die durch patriarchale Strukturen öfter zu Gewaltopfern werden als Männer. Daran ändert auch die Corona-Pandemie nichts. Die meisten der über 1000 Fälle, die von der Gewaltschutzambulanz im vergangenen Jahr dokumentiert wurden, betreffen Frauen. Mit den steigenden Zahlen geht ein höherer Bedarf an Unterbringungsplätzen für Betroffene einher. Der Berliner Senat hatte deshalb im November angekündigt, ein siebtes Frauenhaus in Berlin zu eröffnen, um langfristig mehr Kapazitäten zu schaffen für Menschen, die in ihrem häuslichen Umfeld einem akuten Risiko ausgesetzt sind. Darüber hinaus waren als Zwischenlösungen Hostels für Betroffene geöffnet worden. Für Saskia Etzolds Arbeit waren diese »intermediären Frauenhausplätze« wichtig. Dadurch hätten alle Frauen bei Bedarf von der Gewaltschutzambulanz in Schutzunterkünfte in Berlin weitervermittelt werden können.

Neben Frauen sind besonders Kinder durch häusliche Gewalt bedroht. Um 14 Prozent ist die Anzahl der Kinder und Jugendlichen im vergangenen Jahr gestiegen, deren Verletzungen in der Gewaltschutzambulanz untersucht und verzeichnet wurden. Gefährlich ist, dass vor allem in Zeiten von Schulschließungen die öffentlichen Orte wegfallen, an denen Dritte auf Misshandlungen aufmerksam werden und einschreiten können. Dirk Behrendt berichtet, dass sich Jugendliche in Zeiten der Pandemie vermehrt selbst an Polizei, Jugendämter und Freund*innen gewendet hätten, um Hilfe zu erhalten. Auch der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Charité, Michael Tsokos, bestätigt, wie wichtig es ist, aufmerksam zu bleiben: »Kinder dürfen nicht abtauchen und über Monate verschwinden.«

Die Auskünfte der Gewaltschutzambulanz und der Justizbehörde bilden vermutlich nur einen kleinen Teil der tatsächlichen Realität häuslicher Gewalt in Berlin ab. Aber die steigenden Zahlen angezeigter Straftaten und dokumentierter Gewalt bestätigen das, was seit Beginn der Coronakrise vermutet wurde: Für Menschen, für die das Zuhause kein sicherer Ort ist, wird die Situation in Zeiten von Lockdown und psychischen Belastungen durch die Pandemie immer gefährlicher. Die Notwendigkeit von Angeboten im Bereich Prävention, Beratung und Betroffenenhilfe wird damit auf dramatische Weise offenbar.