nd-aktuell.de / 12.03.2021 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 15

Sachsen ist beim Enteignen Spitzenreiter

Bundesweit über 500 Enteignungsverfahren für den Straßenbau seit 2017

Simon Poelchau

Für die FDP ist Artikel 15 des Grundgesetzes, mit dessen Hilfe die Berliner Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen großen Immobilienkonzernen das Geschäft mit dem Mietenwahnsinn vermiesen will, schon lange ein »Verfassungsrelikt«. Er erlaubt nämlich Vergesellschaftung von privatem Eigentum zum Wohle der Allgemeinheit. »Ihn abzuschaffen, wäre ein Beitrag zum sozialen Frieden und würde die Debatte wieder auf das Wesentliche lenken«, sagte FDP-Chef Christian Lindner etwa vor zwei Jahren.

Nur zu dumm für die Liberalen, dass Artikel 15 des Grundgesetzes nicht die einzige juristische Möglichkeit für Enteignungen durch den Staat ist. So gibt es etwa auch den Paragrafen 15 des Bundesfernstraßengesetzes. Da steht klipp und klar: »Die Träger der Straßenbaulast der Bundesfernstraßen haben zur Erfüllung ihrer Aufgaben das Enteignungsrecht.« Und davon machen die Bundesländer reichlich Gebrauch. In den Jahren 2017 bis 2020 wurden zu Zwecken des Straßenbaus bundesweit 505 Enteignungsverfahren eingeleitet. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Frage der sächsischen Bundestagsabgeordneten und stellvertretenden Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag, Caren Lay, hervor, die dem »nd« vorliegt.

Neben dem Bundesfernstraßengesetz und Artikel 15 des Grundgesetzes ermöglicht auch das Bundesberggesetz Enteignungen zugunsten des Kohleabbaus – etwa im Rheinischen Braunkohle-Revier oder in der Lausitz. Laut der Antwort auf die Anfrage von Lay liegen der Bundesregierung allerdings keine Erkenntnisse vor, wie häufig dies in den letzten Jahren geschah.

Dabei zeigen allein die Zahlen zu den Enteignungsverfahren nach dem Bundesfernstraßengesetz: In Sachen Enteignungen ist das Land Berlin, wo derzeit die Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen Unterschriften für ihr Volksbegehren sammelt, keinesfalls Spitzenreiter. Ganz im Gegenteil: Während es in Berlin 2017 bis 2020 gerade einmal ein Verfahren gab, ist Sachsen mit 131 Enteignungen die unangefochtene Nummer eins. Und dort führt der CDU-Politiker Michael Kretschmer die Landesregierung an.
Auf Platz zwei landet mit 127 Enteignungsverfahren Sachsen-Anhalt, das derzeit vom CDU-Politiker Reiner Haseloff geführt wird. Zusammen kommen Sachsen und Sachsen-Anhalt auf über die Hälfte der Enteignungsverfahren. Das CSU-regierte Bayern und Nordrhein-Westfalen, wo der frischgebackene CDU-Vorsitzende Armin Laschet Landeschef ist, sind mit jeweils insgesamt 77 Enteignungsverfahren auch ganz vorne dabei. Es sind also vornehmlich konservativ geführte Landesregierungen, die den Bürgern ihr Land zum Straßenbau wegnehmen.

»Enteignungen für Autobahnen und Straßenbau sind an der Tagesordnung in Deutschland. Insbesondere in CDU-regierten Ländern. Die Union ist die Enteignungspartei«, kommentiert Linke-Politikerin Lay die Zahlen. Die Aufregung der Union über das Berliner Volksbegehren Deutsche Wohnen und Co. enteignen könne sie deshalb nicht nachvollziehen. »Während der Straßenbau kein Bestandteil einer nachhaltigen und zukunftsorientierten Politik ist, wäre die Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne ein Beitrag zu mehr Gemeinwohl im Interesse aller«, so Lay. »Die Enteignungen für den Bau von noch mehr Straßen und Autobahnen müssen endlich beendet werden.«

Ähnlich sieht es Ralf Hoffrogge von Deutsche Wohnen & Co. enteignen: »Das Grundgesetz erlaubt Enteignungen nur zum ›Wohle der Allgemeinheit‹ – ob noch mehr Autobahnen oder auch mehr Braunkohleabbau angesichts des Klimawandels diese Bedingung erfüllen, ist höchst zweifelhaft«, so Hoffrogge gegenüber »nd«. »Der Begriff Allgemeinwohl wird hier benutzt, um Lobbyinteressen zu bedienen. Gedacht waren Artikel 14 und 15 im Grundgesetz jedoch genau andersherum: Die Interessen privater Konzerne müssen hinter gesellschaftlichen Bedürfnissen zurückstehen«, erklärt Hoffrogge weiter. Genau dies wollten er und seine Initiative mit ihrem Volksbegehren am Berliner Wohnungsmarkt durchsetzen. »Denn leistbarer Wohnraum hat Vorrang gegenüber Aktiendividenden«, so Hoffrogge.