nd-aktuell.de / 15.03.2021 / Politik / Seite 2

Der einseitige Blick des Westens

Hochrangige Persönlichkeiten schalten sich in Kontroverse ein über mutmaßlichen Giftangriff in Duma

Karin Leukefeld

»Wir möchten unsere tiefe Besorgnis über die anhaltende Kontroverse und die politischen Auswirkungen zum Ausdruck bringen, die es um die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) und ihre Untersuchung über den angeblichen Angriff mit chemischen Waffen in Duma, Syrien, am 7. April 2018 gibt.« Das ist der Beginn der Erklärung, mit der sich die zivilgesellschaftliche »Berlin Group 21« am vergangenen Freitag an die Öffentlichkeit wandte. Angeführt wird die Liste der Unterzeichner von José Bustani, Botschafter von Brasilien, erster Generaldirektor der OPCW und ehemaliger Botschafter in Großbritannien und Frankreich. Der Adressat des Schreibens ist die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) und alle ihre 193 Mitgliedsstaaten.

Anlass ist der Streit um den OPCW-Abschlussbericht aus dem März 2019 über einen angeblichen Giftgas-Einsatzes im syrischen Douma 2018. Die Opposition hatte damals die syrische Armee beschuldigt, Gaszylinder mit Giftgas über Duma abgeworfen und 50 Personen getötet zu haben. Die syrische Regierung wies das zurück und forderte eine Untersuchung durch die OPCW.

Die USA, Großbritannien und Frankreich schufen Fakten und bombardierten eine Woche später »zur Vergeltung« Ziele in Syrien mit Luftwaffe und Marine aus dem östlichen Mittelmeer. Bundeskanzlerin Merkel unterstützte den Angriff, dabei war dieser nach Einschätzung des Wissenschaftlichen Diensts im Deutschen Bundestag völkerrechtswidrig. Syrien, Iran, Russland und China kritisierten den Angriff. Die OPCW-Untersuchungsmission, die den Duma-Fall durchleuchten sollte, hatte Damaskus zu dem Zeitpunkt noch gar nicht erreicht.

Die Unterzeichner der Erklärung - ehemalige hochrangige UN-Diplomaten, Politiker, ehemalige OPCW-Waffeninspekteure und Chemiewaffen-Experten, Wissenschaftler und Künstler - fordern nachdrücklich die OPCW zu »Transparenz und Verantwortung« auf. Der Abschlussbericht von März 2019 sei »bearbeitet«, also manipuliert, und sollte politisches und militärisches Handeln rechtfertigen - seitens der USA, Großbritanniens und Frankreichs -, das auf Lügen basierte. Hintergrund dieser starken Anschuldigung ist, dass ehemalige OPCW-Inspektoren und Wissenschaftler, die an der Untersuchung in Duma beteiligt waren, zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen waren, als es der offizielle OPCW-Abschlussbericht zu Duma behauptete. Dort hieß es, es sei »sehr wahrscheinlich« Chlor als chemische Waffe eingesetzt worden. Die OPCW-Inspektoren hatten dafür in Duma keine Beweise gefunden.

Syrien hat stets den Vorwurf zurückgewiesen, chemische Waffen eingesetzt zu haben. Als im Dezember 2012 Kämpfer der Al-Nusra-Front eine einzige Chlorgasfabrik des Landes östlich von Aleppo eingenommen hatten, informierte die Regierung in Damaskus sofort den UN-Sicherheitsrat. Wenige Monate später, im März 2013, kamen bei einem möglichen Chlorangriff auf den Ort Khan Al-Assal 31 Menschen ums Leben. Die Opposition beschuldigte die Regierung, die ihrerseits die Kämpfer der Al-Nusra-Front verantwortlich machte.

Im selben Jahr übergab Syrien sein gesamtes Chemiewaffenarsenal, das es zur Abwehr eines israelischen Angriffs gelagert hatte, der OPCW zur Zerstörung. Syrien trat der OPCW bei und unterzeichnete das Abkommen zum Verbot von Chemiewaffen. Dennoch hält sich hartnäckig der Vorwurf, Syrien setze Chemiewaffen gegen das eigene Volk ein.

Die Geschichte des Krieges in Syrien begann mit Protesten im März 2011, die im gleichen Monat gewaltsam eskalierten. Vergeblich rief die innersyrische Opposition auf, nicht zu den Waffen zu greifen, sondern den Dialog mit der Regierung zu suchen. Im Juli 2011 trafen sich 150 syrische Oppositionelle in Damaskus und formulierten drei Forderungen: kein Militär in Wohngebieten, Freilassung von Gefangenen, Dialog. Zeitgleich wurde in der Türkei die »Freie Syrische Armee« gegründet, die vom Ausland bewaffnet nach Syrien in den Krieg zog.

Einen Tag vor Weihnachten 2011 ereignete sich der erste große Anschlag in Damaskus mit mehr als 40 Toten. Urheber war vermutlich die Al-Nusra-Front. Die Opposition behauptete, die syrische Regierung habe den Anschlag selber inszeniert, um ihre Gewalt gegen die Proteste zu rechtfertigen.

Im Januar 2012 gründeten sich auf Einladung des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy die »Freunde Syriens«, ein westlich dominiertes Bündnis, das der syrischen Opposition beistand und schließlich auch den Kern der US-geführten Anti-IS-Allianz bildet, die im Herbst 2014 erstmals in Syrien bombardierte.

Ein Jahr später, im September 2015, griff auf Bitte des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad Russland in den Krieg ein. Wiederum ein Jahr später, im Dezember 2016 gaben die Kämpfer im Osten von Aleppo auf und wurden nach Idlib evakuiert. Dort sind sie bis heute, unterstützt von der Türkei - und unter der Kontrolle von Hayat Tahrir Al-Scham, der ehemaligen Al-Nusra-Front.

2021 sind die Kämpfe zurückgegangen, doch die Zerstörung ist groß. Einseitige wirtschaftliche Sanktionen der EU seit 2011 und das von den USA erlassene »Caesar-Gesetz« über Sanktionen gegen Syrien verhindern den Wiederaufbau und verschärfen die Wirtschaftskrise. US-Truppen im Nordosten blockieren Syrien den Zugang zu den Ölressourcen des Landes. Die Armut wächst.

Im Sommer 2021 wird in Syrien turnusgemäß ein neuer Präsident gewählt. Vermutlich wird Baschar Al-Assad wieder kandidieren. Wie viele Stimmen er erreichen kann, wird auch davon abhängen, ob er der syrischen Bevölkerung einen Weg aus Wirtschaftskrise und Inflation zeigen kann.

Ehemalige und aktive europäische Mitgliedsstaaten im UN-Sicherheitsrat - Estland, Frankreich, Irland, Belgien und Deutschland - machten am 9. Februar in einer gemeinsamen Erklärung klar, dass sie Wahlen in Syrien nur anerkennen, wenn diese - gemäß der UN-Sicherheitsratsresolution 2254 - »frei, fair und transparent« und »unter UN-Kontrolle« abgehalten würden. Bei dem anhaltenden Streit um Syrien ist es unwahrscheinlich, dass die Bedingung bei den Präsidentschaftswahlen 2021 erfüllt werden wird.