Die lesbare Stadt

Aus Liebe zum Flanieren: Anlässlich der Ausstellung »Anything goes« lädt die Berlinische Galerie zu drei Audiowalks

  • Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 5 Min.
Und auf zum Spaziergang! Ab diesem Frühjahr bis in den August hinein widmet die Berlinische Galerie dem Berliner Bauschaffen der achtziger Jahre eine Ausstellung. Im Fokus stehen Großsiedlungsprojekte am Stadtrand sowie die Rekonstruktion der Innenstadt im Rahmen der IBA (West) 1987, beziehungsweise der Internationalen Bauausstellung der DDR 1987. Ziel der einstigen Bemühungen, ja des unverhohlenen und sprachlich forcierten Wettbewerbsgeistes Ost wie West, war die 750-Jahr-Feier. Hinter dem Kampagnencharakter stand allerdings die mehr als dringliche Aufgabe, die immer noch immensen kriegsbedingten Baulücken zu schließen, die Wohnungsnot zu beheben und innerstädtisches Wohnen neu zu entwickeln.

»Raus in die Stadt!« heißt nun das Audio- Begleitprojekt der Berlinischen Galerie zur Ausstellung. Die App lässt sich kostenfrei von der Website der Berlinischen Galerie herunterladen und lädt zu drei spannenden Touren inklusive Fotos und Lageplan.
Damals glich Berlin »einer Art Architekturlabor«, das schreiben die Autoren einer Senatsstudie, die sich seit gut zehn Jahren den umstrittenen Achtziger-Jahre-Bauten widmet. Die Achtziger bedeuteten einen Perspektivwechsel in der Nachkriegsbaugeschichte Berlins. Nicht mehr Abriss, Neubau und große Verkehrsadern, sondern »Kritische Rekonstruktion«, »Stadtreparatur« durch Neubau und eine »Behutsame Stadterneuerung« durch die Sanierung von Altbaugebieten war Programm. Das waren auch die Leitgedanken der IBA, derweil im Osten das Wohnungsbauprogramm forciert und die technologischen Möglichkeiten des Plattenbaus auch für die Innenstadtsanierung weiterentwickelt wurden.

Das Prestigeobjekt schlechthin war die Friedrichstraße. Und so beginnt die eineinhalbstündige Tour »Neuer Glanz für einen alten Boulevard« mit dem Friedrichstadtpalast von DDR-Stararchitekten wie Manfred Prasser, Dieter Bankert und Walter Schwarz und geht vorbei an den Spreeterrassen von Karl-Ernst Swora, dann weiter mit Blick auf das »Westin Grand«, das einstige »Grand Hotel« mit seiner atemberaubenden Freitreppe im Foyer. Dann das »Russische Haus«, damals »Haus der Sowjetischen Wissenschaft und Kultur«, mit seiner gewichtigen Anmutung und der Erinnerung an aufregende Filmvorführungen in der Glasnost-Ära. Ein Schlenker führt zum Gendarmenmarkt, dem früheren »Platz der Akademie«, an dem wohl jeder wohnen möchte, der gern mit vier Schritten im Schauspielhaus wäre. Das Gesamtensemble wurde gerade im Februar unter Denkmalschutz gestellt. Dazu heißt es: »Der Gendarmenmarkt, wie er sich heute präsentiert, ist mit all seinen Elementen ein hervorragend überliefertes Zeugnis eines städtebaulichen Großprojektes der DDR«. Dabei galt das mitunter unvermittelte Nebeneinander von Stilen und Stilzitaten – als wandle man durch verschiedene Epochen – als gewünscht.

Das Eckhaus am Checkpoint Charlie von Peter Eisenman und Jaquelin Robertson zeigt sich etwas brachial verschachtelt. Es gilt mit seinem deutlich wahrnehmbaren Doppelraster als Ikone für die Erschaffung eines Genius Loci, eines charismatischen Ortes und verfügt neben dem Privatmuseum zum Grenzübergang auch über fünfundvierzig Wohnungen. Signalbauten, wie das mit einem schwebenden Dach versehene »Wohnhaus am Check Point Charlie« des Rotterdamer Büros OMA, versammeln sich im südlichen Bereich des Boulevards. Ein wenig versteckter dann John Hejduks pittoreske »Wohnanlage mit Atelierturm« in der Charlottenstraße mit ihren quadratischen Fenstern und schnabelartigem Gebäudeschmuck. Spannend und rätselhaft zugleich wirkt das lesbar Unlesbare, die konzeptuelle Mitgift in den Architekturen, die zumeist einer tieferen Recherche bedarf und die per Mobilführer mitgeliefert wird.

Die zweite Tour führt vom meist gut besuchten Fraenkelufer nahe der Admiralbrücke und dem effektvollen Eckhaus mit schönen Wohnungen von Hinrich und Inken Baller, hin zum Kottbusser Tor mit dem hassgeliebten spektakulären »Neuen Kreuzberger Zentrum«. Das NKZ erzählt denkmalgeschützt von der Stadtkonzeption der Sechziger und Siebziger. Die Wohnqualität wirkt über den Verkehrsachsen voller Lärm und Feinstaub dramatisch. Was wird sich hier ändern an dem geschäftigen Geschehen? Etliche Protestschilder der Gemüsehändler, Reparaturläden und Dönerstände mahnen derzeit vor dem Abriss ihrer Lager. Auch der Görlitzer Park, dessen Ruf als Drogenmeile konträr zum lebendigen Leben in dieser Grünachse mit historischem Hintergrund als einstige Bahnbrache steht, gehört zu den rund einhundertachtzig Projekten der IBA, die auf eine sozial durchmischte Stadtentwicklung, sozial geförderten Wohnungsbau und Bürgerbeteiligung gesetzt hatte.

Eine andere Tour verläuft um die Berlinische Galerie herum, die Lindenstraße entlang oder zurück in die Ritterstraße mit ihren großen, mitunter fast kasernenhaft, dann wieder abwechslungsreich anmutenden Wohnanlagen. Ein Beispiel ist ein nördlich gelegener Wohnhof des Luxemburger Architekten Rob Krier, der europaweit mit postmodernen Stadtreparaturen Aufsehen erregt und Kontroversen über Kleinteiligkeit, Material als Sprache und historische Adaption initiiert hat.

Rundgang und Ausstellung ermöglichen die gemeinsame öffentliche Sichtung und Diskussion des Bestands, wie es dies schon die Vorgängerschau zur Nachkriegsmoderne leistete. Die alten Fragen kommen auf: Wie wollen wir wohnen? Wie stemmt man ein Wohnungsbauprogramm mit erträglichen Kosten für die Mieter? Was hat sich überlebt, was muss statt abgerissen neu gedacht und genutzt werden, wo bleibt das Grün, das mit der aktuellen Verdichtung der Innenstadt im Moment reichlich überbaut wird? Wer die Tour »Friedrichstraße« am Mehringplatz beginnt, also von der Mitte des aus barocker Zeit ursprünglich herrührenden Rondells, umgeben von Werner Düttmanns Rundbauten aus den Sechzigern – ein verwaister Ort – erkennt sehr schnell, was gemeint ist. Auch in nächster Nähe verharren Innovationen des Sozialwohnungsbaus mit kleinen Gärten und Terrassen in Schockstarre gegenüber Gentrifizierungsinteressen.

Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124 –128. Die Galerie ist ab diesem Mittwoch mit Hygienemaßnahmen wieder geöffnet. Zeitfenster-Tickets können auf der Website gebucht werden. 
Die Audiowalks sind kostenfrei über die Website der Berlinischen Galerie abrufbar: berlinischegalerie.de/digital/anything-goes

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